V. Stümke: Zwischen gut und böse

Cover
Titel
Zwischen gut und böse. Impulse lutherischer Sozialethik


Autor(en)
Stümke, Volker
Reihe
Ethik im theologischen Diskurs 23
Erschienen
Berlin 2011: LIT Verlag
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Leopold Neuhold

Zwischen gut und böse, wo aber liegt die Grenze, oder gibt es ein gut-böse-Kontinuum, das utilitaristisch je nach den Folgen zu bestimmen ist? Was aber, wenn für die Grenzziehung theologische Kriterien namhaft gemacht werden, mit all der Problematik einer fundamentalistischen Verkürzung oder einer theologischen Verengung des ethischen Deutungs- und Handlungsraumes? Aber legt eine theologische Bezugnahme in manchen Punkten nicht einen Deutungsraum, der dem Menschen in seiner Ganzheitlichkeit gerecht wird, erst frei? Wenn Volker Stümke im Artikel «Der Mehrwert der Sünde» diesen Mehrwert christlicher Rede von Sünde und Vergebung in der «schon gegenwärtig erfahrbaren Sündenvergebung und Rechtfertigung » (110) sieht mit der damit verbundenen Befreiungserfahrung in Momenten des geschichtlich erfahrbaren Willens zur Versöhnung in gesellschaftlichen Relationen und in der theologischen Erkenntnis, dass Gott allein Sünden vergeben kann und daher die Vergebungsbitte auch gesellschaftlich befreiend zu wirken imstande ist, so wird damit nicht die Grenze zwischen gut und böse verschoben, wohl aber der Hintergrund von gut und böse im Lichte lutherischer Sozialethik ausgeleuchtet. Oder wenn Stümke – für einen lutherischen Sozialethiker für manche vielleicht überraschend – als ethische Anmerkungen zur Jungferngeburt als Geheimnis des Glaubens zwei ethische Einsichten formuliert, nämlich «erstens Respekt vor der Privatsphäre Marias und zweitens Begrenzung einer religiösen Deutungssucht» (133), so legt er in diesen Begrenzungen Konsequenzen der Dogmatik für ethische Einsichten frei.

Schon im ersten Beitrag in dieser Sammlung von 16 an verschiedenen Orten publizierten Artikeln des als evangelischer Sozialethiker an der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg und als Vertreter der systematischen Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal tätigen Volker Stümke zeigt sich das Bemühen um das Gewinnen ethischer Perspektiven aus theologischen Grundlagen, wenn er unter dem Titel «‹Niemand ist gut als Gott allein›. Eine Aktualisierung von Luthers Auslegung des ersten Gebots» in Auseinandersetzung mit Odo Marquards «Lob des Polytheismus» zu folgendem Schluss kommt, der meines Erachtens für heute orientierend sein kann: «Die für den Einzelnen notwendige Kohärenzstiftung, das Aufdecken einer sinnvollen Ordnung in dem Ansturm von pseudogöttlichen Ansprüchen, bedarf einer göttlichen Zusage, die einen solchen einheitsstiftenden Bezugspunkt markiert. Die grundlegende Gewissheit des christlichen Glaubens unterbreitet solche Ratschläge zur Dosierung der Götter und ihrer Forderungen, sie sorgt dafür, dass die vorhandene Vielfalt für den Einzelnen bekömmlich wird.» (42f) Wie dieses Zitat zeigt, macht es sich Stümke nicht einfach mit seinen Gesprächspartnern, in diesem Fall Odo Marquard, in anderen Fällen Jürgen Habermas, Judith Butler oder eben ganz fundamental Martin Luther oder Immanuel Kant. Er rekonstruiert deren Positionen sehr präzise und umfassend, nicht in der Art des einseitigen Aufbaus eines sogenannten «Watschenmannes », den man dann überzeugend «prügeln » kann, sondern eben differenziert. Dies gilt besonders für den Artikel «Wie viel Selbstbestimmung gehört zur Würde des Menschen? Gedanken zur Menschenwürde bei Luther und Kant aus ethischer Perspektive», wo sich etwa im folgenden Zitat der differenzierende Zugang sehr deutlich zeigt: «Was der Selbstbestimmung des Menschen grundsätzlich widerspricht, kollidiert auch mit der Menschenwürde – und das kann erlittenes politisches Unrecht ebenso umfassen wie selbst verübtes pflichtvergessenes Fehlverhalten; es betrifft derzeit insbesondere die aufbrechende Debatte über Ausnahmegenehmigungen bei der Folter, wo Nützlichkeitserwägungen im Verbund mit konstruierten Extremfällen gegen die Menschenwürde gestellt werden.» (202f)

Diesem genannten Problem der Folter und der Folterdebatte, die bei vielen Vertretern in Richtung wohlüberlegter Ausnahmefälle für die Anwendung von Folter geht, sind zwei in die Sammlung aufgenommene Artikel gewidmet. In der Bezugnahme auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde, die besagt, «dass Würde nicht als Wert gegen andere Werte abgewogen werden könne» (292), verwehrt er sich gegen solche meist konstruierte Ausnahmefälle, auch wenn das einem unweigerlichen Schuldigwerden gleich kommen könnte. So schreibt Stümke: «Damit soll weder der Täter ethisch ins Recht gesetzt noch Schicksalsergebenheit gefordert werden, es geht schlicht um das Einklagen der Ehrlichkeit, dass wir als Personen wie als Staat in Situationen geraten können, in denen uns keine geeigneten Handlungsoptionen bleiben. Das kann zum einen bedeuten, dass wir keinen Erfolg versprechenden Ausweg sehen, zum anderen kann es besagen, dass wir bei den verbliebenen Handlungsmöglichkeiten nicht umhin kommen werden, schuldig zu werden – ein Gedanke, den Dietrich Bonhoeffer in seiner Ethik entfaltet hat.» (300f) Auch wenn ich der These vom unweigerlichen Schuldigwerden nicht folgen kann, ein wichtiger Impuls, der sich aus solcher Sicht ergeben müsste, ist die Forderung, alles zu tun, damit es nicht zu solchen Situationen kommt. Ebenso problematisch ist es, wenn man vom worst case, vom schlimmsten aller anzunehmenden Fälle her, zur Bestimmung der Ethik für den «Normalfall» kommt.

In den ethischen Auseinandersetzungen mit den Diskussionen um erweiterte Sicherungsverwahrung zeigt sich in all der differenzierenden Betrachtung das unbedingte Festhalten an der Menschenwürde, was zum Teil zu einer Unterbewertung der Perspektive der aktuellen und potentiellen Opfer führen könnte, was aber konsequenterweise notwendig zur Wahrung der Menschenwürde ist. Diese Gratwanderung, die Stümke sehr differenziert wahrzunehmen versucht, zeigt sich auch in den Beiträgen «Einen Räuber darf, einen Werwolf muss man töten» in Bezug auf die Zirkulardisputation Luthers von 1539 im Blick auf Gewalt oder in seiner Betrachtung des Bösen in der Politik («‹... erlöse uns von dem Bösen›. Das Böse als Kategorie der politischen Ethik»). In den Beiträgen «Das Aufheben eines Strohhalms» und «Befreit zur Gemeinschaft» etwa werden die Konsequenzen reformatorischer Theologie für die Konzeption ethischen Handelns angesprochen.

In ihrer Vielfalt sind die in diesem Band versammelten Artikel herausfordernd, in der Verbindung von systematischer Theologie mit ethischer Theoriebildung und Handlungsorientierung erhellend, in der Konkretisierung zum Weiterdenken anregend.

Zitierweise:
Leopold Neuhold: Rezension zu: Volker Stümke, Zwischen gut und böse. Impulse lutherischer Sozialethik, Berlin, LIT Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 497-498.

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