U. Altermatt: Das historische Dilemma der CVP

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Titel
Das historische Dilemma der CVP. Zwischen katholischem Milieu und bürgerlicher Mittepartei


Autor(en)
Altermatt, Urs
Erschienen
Baden 2012: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Markus Furrer, Pädagogische Hochschule Zentralschweiz

Politikgeschichte ist wieder in Mode gekommen. Darauf verweist Urs Altermatt in seinem neusten Buch zur Parteiengeschichte der Christlichdemokratischen Volkspartei der Schweiz (CVP), ein Untersuchungsbereich, dem der emeritierte Freiburger Professor während langen Jahren seines Schaffens mit transdisziplinären Ansätzen nachgegangen ist. Damit ist Kontinuität angesagt. Das hier vorliegende Buch nimmt die Stränge dieses breiten Schaffens auf, wobei Urs Altermatt in einer neuen Synthese der Frage nach den Perspektiven der Mittepartei(en) nachgeht. Pointiert sind die eingebrachten Erkenntnisse: Urs Altermatt folgert, dass bei näherem Betrachten nur eine Fusion zwischen CVP und BDP (Bürgerlich-Demokratischer Partei) Zukunftsaussichten habe (222). Ferner schreite die Säkularisierung und Entkonfessionalisierung weiter voran, wobei sich die christliche Identität der CVP zunehmend historisiere (214). Sollte die Parteieliten nicht den Mut zu diesem «radikalen Schritt» aufbringen, dann drohe die CVP zu einer Regionalpartei wie die CSU in Bayern «abzusinken» (S. 222). Das Dilemma der Partei liegt auch, wie dies in ihrer Programmatik immer wieder aufscheint darin, dass auf Grund fehlender ideologischer Grundlagen in vielen Sachfragen, die Meinungen in der Partei häufig auseinander gehen. Ausmachen lässt sich auch eine Art «Theoriedefizit». Darin bestehe, so Urs Altermatt, das Dilemma der CVP. Besonders anschaulich lasse sich dies an der konkreten Umsetzung des identitätsstiftenden «C» aufzeigen, wo die Meinungen innerhalb der Partei häufig auseinander gehen und mit der Säkularisierung dieses zu einer Leerformel zu werden drohe (69).

Solche Folgerungen, so zeigt es der Historiker, lassen sich aus dem geschichtlichen Werdegang herleiten. Die historische Perspektive ermöglicht es, Kontinuitäten aber auch Brüche in der Parteiengeschichte zu erfassen und zu deuten. Erst durch sie eröffnet sich der Blick in die Gegenwart und damit lassen sich mögliche Strategien der Partei diskutieren. Das Buch ist in fünf Hauptbereiche unterteilt. In einem ersten wird ein Überblick zur Entwicklung «von der katholischen Milieuzur christlichdemokratischen Mittepartei» geboten. Diskutiert werden darin Teilaspekte, welche auch gut einzeln gelesen werden können. Ein zweiter Themenstrang beleuchtet die Zeit zwischen 1850 und 1970 unter «Kulturkampf, Bürgerblock und Konkordanz». Hierbei werden neben thematischen und strukturellen Bezügen auch biografische Aspekte eingeflochten. Der dritte Teil widmet sich der Thematik «zwischen Säkularisierung, konservativer Wende und religiöser Vielfalt» für die Zeit ab 1970. Im Anschluss folgen eine Radiografie der CVP-Bundesräte als viertes Kapitel sowie unter dem fünften Teil «Alleingang oder Fusion» eine Analyse der Gegenwart mit der Frage nach der Zukunft der Partei.

Aus dem detailreichen Werk lassen sich verschiedene Themenstränge zur Geschichte der CVP entnehmen. So erfahren wir mehr über das Ende der «hundertjährigen Alleinherrschaft» in den konservativen Stammlanden, bedingt durch die kulturelle Integration der Katholiken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dann durch den Einbruch der SVP (Schweizerische Volkspartei) in die Stammlande, indem es dieser neu auftretenden und nationalkonservativ geprägten Partei gelang, gewachsene Abwehrhaltungen gegen jegliche Zentralisierung in einen Protest gegen das Europa Brüssels umzufunktionieren (51).

Eine Zäsur in der Geschichte der CVP und des schweizerischen Bundesstaats bedeutete die Abwahl der CVP-Bundesrätin 2003, was einem Tabubruch gleichkam. Auf die Forderung nach einem zweiten Bundesratssitz der auf Grund ihrer Wählerstimmen kräftig gewachsenen SVP ging eine Mehrheit der Bundesversammlung ein; geopfert wurde auf Grund des Anciennitätsprinzips der Sitz der CVP-Bundesrätin Ruth Metzler. Wie zu erfahren ist, begann die Dekonstruktion der Zauberformel jedoch nicht erst mit dem Aufstieg der SVP in den 1990er Jahren, sondern sie ist auf ein «Schwächeln» der Regierungsparteien seit 1971 zurückzuführen. Die CVP büsste jedoch damit ihre machtpolitisch wirksame Scharnierfunktion im Bundesrat ein, welche sie von 1919 im Hintergrund und sei 1959 deutlich feststellbar, eingenommen hatte. Ihre Mediationsfunktion war damit geschwächt (77).

Wie die Ausführungen zur Geschichte der Partei zeigen, war diese jedoch aktiv darum besorgt, die programmatischen Weichenstellungen einzuleiten, was sich an den Parteireformen von 1970/71 zeigt, die gemäss Urs Altermatt einem «Meilenstein » gleichkamen. Die Partei reagierte hier früh auf den gesellschaftlichen und religiösen Wandel. In der Parteileitung vollzog sich ein Generationenwechsel. Und damit positionierte sich die schweizerische CVP ähnlich wie die anderen christlichdemokratischen Parteien Europas als Mittepartei. Dabei machte die Partei nach Urs Altermatt den Schritt von einer Weltanschauungs- zu einer Wertepartei. Die Partei verabschiedete sich hier vom politischen Katholizismus und es mache den Anschein gemäss Autor, dass sich diese zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einem voranschreitenden Prozess von einer «christlichen Weltanschauungspartei» in Richtung einer christlich inspirierten «Wertepartei» bewege (158).

Die CVP sah sich seit ihrer Gründung als «Volkspartei» und hob ihre soziale Heterogenität hervor. Sie deckte wie ihre Schwesternparteien in Belgien, den Niederlanden oder Österreich ein breites soziales Spektrum ab. Auch hier werden Brüche seit 1970 bemerkbar: Während sich die Christlichsozialen in den 1970er Jahren zunehmend von der Gesamtpartei entfremdeten, führte die Gründung der «Arbeitsgemeinschaft Wirtschaft und Gesellschaft» in den 1980er Jahren eine Rechtswende der Partei herbei (165).

Vergessen gegangen ist auch, was im Buch anschaulich zum Ausdruck kommt, die Brückenfunktion der Schweizer Christlichdemokraten nach 1945 in Bezug auf die europäische Integration. Allerdings spielte die Schweizer Partei nur in den frühen Anfängen der europäischen Versöhnung eine aktive Rolle, als nach dem Zweiten Weltkrieg eine christlichdemokratische Internationale gegründet wurde, die den Integrationsprozess massgeblich vorantrieb. Bereits in den 1950er Jahren zeigten die Schweizer Christlichdemokraten wenig Interesse an der Aussen- und Europapolitik und sie überliessen dieses Politikfeld dem Freisinn (170). Erst die Wende 1989 weckte die Partei aus ihrer aussenpolitischen Apathie; 1994 wurde die CVP assoziiertes Mitglied der Europäischen Volkspartei.

In einem eigenen Kapitel beleuchtet Urs Altermatt die «Bundesratswahlen als Seismographen des politischen Klimas». So erfährt man, dass das Profil der CVPBundesräte Ähnlichkeiten mit jenem der Sozialdemokraten aufweist. Politiker aus den katholischen Stammlanden hatten es jahrzehntelang leichter, in den Bundesrat zu gelangen. Die Mehrzahl der CVP-Bundesräte gehörte zur Gruppe der «ausgleichenden Zentristen» und die «Lateiner » stellten rund ein Drittel der CVPBundesräte (201/202).

Der historische Zugang zur Parteienforschung erhellt die Bedeutungen der Parteien als Organisationen für ein demokratisches System, was im zeitlichen Ablauf besonders sichtbar gemacht werden kann. Nationale Vergleiche, die in diesem Buch eine wichtige Rolle spielen, ermöglichen eine komparatistische Sicht. Während die politische Polarisierung in den meisten europäischen Ländern in den vergangenen Jahren die Mitte aufrieb, so blieb diese in der Schweiz namentlich mit FDP (Freisinnige Demokratische Partei) und CVP im Sinne eines Sonderfalls ähnlich wie in Belgien, Luxemburg und Österreich lange erhalten (213). Den Einbruch der Mitte förderte in der Schweiz erst die Dynamik der europäischen Integration, welche einen starken Antieuropäismus in breiten Volksschichten aufkommen liess und nationale Identitätspolitik zum Mittelpunkt politischer Debatten machte.

Das Buch deckt Eigenheiten des schweizerischen politischen Systems auf und ermöglicht einen fundierten Einblick in die Geschichte der CVP. Die Geschichte dieser Partei zählt Dank Urs Altermatts Schaffen zu den am besten aufgearbeiteten der Schweiz. Das Buch geht aber auch über eine enge Parteiengeschichte hinaus und öffnet den Blick aus historischer Perspektive für den Wandel, dem die Schweizer Parteienlandschaft generell unterworfen ist.

Zitierweise:
Markus Furrer: Rezension zu: Urs Altermatt, Das historische Dilemma der CVP. Zwischen katholischem Milieu und bürgerlicher Mittepartei, hier+jetzt, Baden 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 482-484.

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