S. Janner: Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust

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Titel
Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust. Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im Basel des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Janner, Sara
Reihe
Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 184
Erschienen
Basel 2012: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
595 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Thomas Metzger, Departement für Historische Wissenschaften, Universität Freiburg (CH)

Die komplexe Verflechtung von Religion und Politik sowie die spezifische Konzeption von Kirchlichkeit im ständischen Selbstverständnis des konservativen und insbesondere religiös-konservativen alten Bürgertums in Basel stehen im Zentrum der in der Reihe «Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft » im Schwabe Verlag erschienenen Dissertation von Sara Janner. In ihrer sozialgeschichtlich geprägten Studie rückt die Autorin gesellschaftliche Strukturen und Akteure der konservativen Netzwerke ins Zentrum. Den Untersuchungszeitraum legt sie in ihrem Buch auf die Zeitspanne von 1798 bis 1889 fest, wobei schwerpunktmässig die Zeit des konservativen «Ratsherrenregimentes» von 1831 bis 1875 untersucht wird. Für ihre Dissertation hat die Historikerin sehr umfangreiche Quellenbestände in diversen Basler Archiven analysiert. Sie verfolgt denn auch einen quellenzentrierten Ansatz, wohingegen theoretische Überlegungen in den Hintergrund treten. Ihre lokalgeschichtliche Studie, die sich mit den Kommunikations- und Beziehungsnetzen einzelner religiös-konservativer Exponenten und Vereine auseinandersetzt und Sozialprofile der Akteursgruppen erarbeitet, bedeutet nicht nur für die Basler Geschichtsforschung einen grossen Gewinn. Vielmehr liefert sie auch einen bedeutenden Beitrag für das bessere Verständnis des Zusammenwirkens von Religion und Politik sowie der Funktion von Religion in der Gesellschaft und deren Transformationen zwischen Ancien Régime, der nationalen Einigung der Schweiz und der Jahrhundertwende um 1900.

An eine kompakt gehaltene Einleitung schliessen sich vier Haupt- und ein kürzeres Schlusskapitel an. Den Einstieg in die Hauptkapitel macht Sara Janner in Kapitel eins mit einem kritischen Blick auf die historiographische Tradition in der Bedeutungszuschreibung gegenüber den religiös- konservativen Kreisen in Basel, die sich im Konzept des «frommen Basel» niedergeschlagen hat. Mit einer kritischen Analyse der Archivierungstechniken und der Geschichtsschreibung zeigt sie schlüssig auf, wie eine Kette von Vereinnahmungen von Personen und Vereinigungen sowie die Projektion von Selbstdarstellungen in die Vergangenheit zu langlebigen historiographischen Verzerrungen führten. So weist die Autorin etwa nach, dass die Rolle des Pietismus – insbesondere der Herrnhuter Brüdersozietät – sowie der Bedeutung der Pfarrer als zentrale Akteure bislang deutlich unterschätzt wurde. Die kritische Reflexion, ja partielle Dekonstruktion des von Paul Burckhardt 1942 geprägten Geschichtsbildes des «frommen Basels» stellt eine der Stärken der Dissertation Sara Janners dar.

Der Entwicklung der Stadtbürgerschaft und besonders des alten Bürgertums widmet sich das zweite Kapitel und liefert damit den für das Verständnis des ganzen Buches wichtigen kontextuellen Rahmen. Im Zentrum der Ausführungen stehen hier die mehrschichtigen Abschliessungsprozesse der alten Stadtbürgerschaft. So grenzte sich die konservative Elite nach der Helvetik, der Kantonsteilung und der Schaffung des Schweizerischen Bundesstaates in mehreren Schritten nach aussen gegen die Landbürger und nach innen sozial gegen den gewerblichen Mittelstand ab. Dies führte zu einem Rückzug dieser konservativen Kreise auf die kommunale Ebene und auf sich selbst. Eine kurze Thematisierung des radikalen Freisinns und der entstehenden Sozialdemokratie als politische Gegner des Konservatismus hätte das kontextuelle Bild abgerundet. Das ständische und auf die Stadt Basel bezogene Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums äusserte sich nicht zuletzt auch auf religiöser Ebene in den zahlreichen inner- und ausserkirchlichen religiösen Vereinen und hier insbesondere im Kirchenverständnis, welches die Autorin mit dem Begriff «Kirchlichkeit» fasst. Die Erkenntnisse Sara Janners zum Kirchenbild des konservativen und religiös-konservativen Stadtbürgertums stellen einen weiteren bedeutenden Mehrwert ihrer Forschungsarbeit dar. Die «Kirchlichkeit», die in der Dissertation mehrfach thematisiert wird, zeichnete sich durch eine starke Identifikation der Ortskirche mit der Ortsgemeinde aus. Die Identifikation war sogar so stark, dass selbst pietistische Gruppen in der Staatskirche verblieben, selbst nach 1874, als der Bekenntniszwang in der reformierten Kirche des Kantons beseitigt war.

Neben dem speziellen Kirchenverständnis widmen sich die Kapitel drei und vier den religiösen Vereinen, deren Vielfalt ein wichtiges Charakteristikum der religiöskonservativen Lebenswelt des alten Bürgertums Basels darstellte. Die Vereinsgründungen, die sich in mehrere von Erweckungsbewegungen geprägte Phasen einteilen lassen, sowie das Engagement von Mitgliedern des alten Bürgertums in diesen Vereinigungen besassen auch eine politische Dimension. Gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann diese für die Machterhaltung des konservativen alten Bürgertums an Bedeutung. Aufgrund der guten Quellenlage werden in der Dissertation zum einen die Herrnhuter Brüdersozietät und – in einem eigenen Kapitel – der ebenfalls pietistisch geprägte und 1830 gegründete judenmissionarische «Verein der Freunde Israels» eingehender analysiert. Innerhalb des Protestantismus eine Minderheitstheologie vertretend, welche «den Juden» eine fortexistierende zentrale Bedeutung in der christlichen Heilsgeschichte zuschrieb, widerspiegelte auch dieses sogenannte «Reichgotteswerk» die Verflechtung zwischen Religion, Kirchlichkeit und Politik. Vorrangig beschreibt Sara Janner die Trägerschicht, wichtige Exponenten und die Netzwerke des Judenmissionsvereins und erarbeitet zudem ein Soziogramm der vom Verein betreuten «Proselyten». In diesem Zusammenhang sei auch auf das umfangreiche Zahlenmaterial und die Auflistungen im Anhang verwiesen. Die sehr detaillierte Charakterisierung der Strukturen der Vereinigung und die vorgenommene Periodisierung bleiben aufgrund des lokalgeschichtlichen Ansatzes fast ausschliesslich auf Basel fokussiert. Folglich konstatiert die Autorin ab den 1850er und vor allem ab den 1870er Jahren einen Niedergang des Vereins, während sie dessen Wachstum ausserhalb von Basel kaum thematisiert. Die Fokussierung auf Strukturen und Kommunikationsnetzwerke vernachlässigt zudem die Analyse der vom Verein propagierten Inhalte. So werden die geschichtstheologischen Grundüberzeugungen und das von heilsgeschichtlichen Projektionen und oft judenfeindlichen Überzeugungen geprägte «Judenbild» der «Freunde Israels» nur kurz erläutert, und auch der dem judenmissionarischen Verein inhärente Aspekt der «inneren Mission» wird nicht breiter beleuchtet.

Insgesamt wäre eine deutlichere theoretische Einbettung der Dissertation wünschenswert gewesen. Vor allem die Einordnung der Resultate in die internationale Konservatismusforschung hätte einen zusätzlichen Gewinn bedeutet. So hätte es sich beispielsweise angeboten, auf Forschungen zum konservativen schweizerischen Katholizismus Bezug zu nehmen, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Milieubildung ebenfalls einen Abschliessungsprozess durchmachte. Doch die hier genannten Kritikpunkte sollen das Verdienst der sehr differenziert argumentierenden und aufwändig recherchierten Forschungsarbeit, die zudem sehr gut geschrieben und sauber redigiert ist, keineswegs schmälern. Die konzise Darstellung der Funktion von Religion und Kirchlichkeit in der Politik und im Selbstverständnis des konservativen alten Basler Bürgertums wird in der Historiographie Basels deutliche Spuren hinterlassen und stimulierend auf die Konservatismusforschung in der Schweiz wirken.

Zitierweise:
Thomas Metzger: Rezension zu: Sara Janner, Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust. Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im Basel des 19. Jahrhunderts, Basel, Schwabe Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 471-473.

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