O. Zimmer: Remaking the Rhythms of Life

Cover
Titel
Remaking the Rhythms of Life. German Communities in the Age of the Nation-State


Autor(en)
Zimmer, Oliver
Reihe
Oxford Studies in modern European history
Erschienen
Oxford 2013: Oxford University Press
Anzahl Seiten
412 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Patricia Hertel, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Nation und Nationalstaat als Untersuchungsgegenstand sind in den letzten Jahren vielfach in den Schatten der Globalgeschichte geraten. In methodischen Debatten um globalgeschichtliche Erweiterungen der Geschichtsschreibung rückten zentrale Themen der Nationalismusforschung wie das Verhältnis von Stadt, Region und Nation in den Hintergrund. Nun legt der in Oxford lehrende Historiker Oliver Zimmer ein Buch vor, das an die klassischen Untersuchungsfelder von Nations- und Regionsbildung anknüpft und sie methodisch weiterführt.

Zimmer, ausgewiesener Kenner der europäischen Nationalismusforschung, untersucht, «how men and women strove to regain a sense of place in a changing world» (1). Er fragt nach den «new rhythms and routines» (2), mit denen die städtische Bevölkerung des deutschen Kaiserreichs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen ihres Alltags reagierte. Seine zentrale methodische Perspektive ist die von «place and place-making, conceived as both physical intervention and emotional attachment» (6). Dieser Zugang bietet zwei Vorteile: Zum einen vermeidet Zimmer mit dem Leitbegriff des Lebensrhythmus das wegen seiner häufig teleologischen Aufladung in die Kritik geratene Modernisierungsparadigma. Zum anderen bietet dieser Zugang eine analytische Klammer für auf den ersten Blick heterogene Untersuchungsgegenstände: lokale Wirtschaft, Debatten um Schulerziehung, Einbürgerungsverfahren und die Feier von Festen in der städtischen Gemeinschaft. Zimmer analysiert diese Veränderungen im Lebensrhythmus am Beispiel von drei mittelgrossen Städten unter 100.000 Einwohnern: Ludwigshafen in der bayerischen Pfalz, Augsburg im bayerischen Schwaben und Ulm in Württemberg. Alle drei waren in unterschiedlichen Anteilen konfessionell gemischt, in allen wirkten einflussreiche nationalliberale Akteure. Die Unterschiede in wirtschaftlichen Ressourcen reichten vom eher durch Handel und Handwerk geprägten Ulm bis hin zum industriellen Senkrechtstarter Ludwigshafen mit einem rasanten Bevölkerungswachstum im Untersuchungszeitraum.

Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Der erste mit dem Titel «Journeys» analysiert zunächst die Dynamiken der lokalen Wirtschaft in den drei Städten und widmet sich dann den Debatten um Schulerziehung, die in unterschiedlicher Gewichtung in den drei Städten als «transformative agents in an evolving shared space» (69) angesehen wurden. Vorstellungen von Konkurrenzfähigkeit und Investitionen, materiell und ideell, sind hier die Klammer für die jeweiligen «Reisen» in die Zukunft. Im zweiten Teil «Placemakers» untersucht der Autor Debatten und Praktiken um die Vergabe des Bürger rechts. Daneben untersucht er die Herausforderungen, in die die jeweilige Bürgergemeinde durch die zunehmende Binnenmigration gestellt wurde, und analysiert die praktischen und diskursiven Lösungsversuche. Der dritte Teil, der das titelgebende «Rhythm» aufnimmt, analysiert die «hidden rhythms» (173) des öffentlichen Stadtlebens. Darunter fallen zwei Feste, der Sedanstag als inoffizieller Nationalfeiertag des Kaiserreichs, jedoch mit unterschiedlicher Akzeptanz in verschiedenen Regionen, und das katholische Fronleichnamsfest. Ein weiteres Thema dieses Teils sind die liberalen Vorstellungen von Fortschritt und gesellschaftlicher Dynamik, die der Autor an Diskussionen und Massnahmen rund um die jeweiligen Stadttheater sowie um Hygiene und Gesundheit untersucht.

Die Analyse stützt sich auf eine sehr breite Quellenbasis. In der Darstellung seines Gegenstands gelingt es dem Autor, ein plastisches Bild der Lebenswelt in den drei Städten zu zeichnen. Die Gestaltungsversuche von Räumen und Rhythmen des Lebens werden anhand von vielen konkreten Beispielen aus dem Alltagsleben deutlich gemacht. Den einzelnen Teilen sind einleitende Kapitel vorangestellt, in den Ausführungen finden sich zahlreiche Binnenvergleiche zwischen den drei Städten. Dennoch nimmt die Studie dem Leser nicht überall die Aufgabe ab, sich den roten Faden in der Fragestellung wieder zu vergegenwärtigen, was angesichts des Materialreichtums nicht immer ganz leicht ist. Es ist Anliegen und innovativer Ansatz der Studie, unterschiedliche Gegenstände unter einem Leitbegriff zusammenzubringen. Für einige Gegenstände erscheinen diese Leitbegriffe besonders schlüssig, für andere weniger. Deshalb hätten einige synthetisierende Passagen mehr die Leserfreundlichkeit noch erhöht.

Im Schlusskapitel diskutiert Zimmer im Licht seiner Ergebnisse zentrale Themen, die die Nationalismusforschung seit langem beschäftigen. Gegen ein uniformes Modernisierungsparadigma setzt er die Vorstellung von «change as an unpredictable process» (296). Der modellhaften Trennung von lokaler und nationaler Ebene setzt er, aufbauend auf vorherige Überlegungen der Forschung, die Verwobenheit dieser Sphären entgegen. Sein Beitrag zur Diskussion um die Durchsetzung nationaler Gedanken ist statt der inzwischen vielfach verworfenen «top-down»-Perspektive die Metapher eines «complex dance, one that owed its existence less to generic rules than to the improvisation of its participants. […] Certain dancers were at times innovating and leading the way, but at other times they were just dragged along» (303). Damit unterstreicht er eine Auffassung von Nationalismus als kollektiver Praxis, die ergebnisoffen und auf verschiedenen Ebenen unterschiedlich intensiv war.

Es ist das Verdienst des Buchs, auf ein in den letzten Jahrzehnten sehr gut erforschtes Thema einen neuen methodischen Blick zu entwickeln. Die Studie hat das Potential, der Nationalismusforschung wertvolle Impulse zu verleihen. Wissenschaftler, die sich mit dem Verhältnis von Region und Nation im deutschen nationbuilding beschäftigen, werden dort viele Inspirationen finden.

Zitierweise:
Patricia Hertel: Rezension zu: Oliver Zimmer, Remaking the Rhythms of Life. German Communities in the Age of the Nation-State, Oxford, University Press, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 107, 2013, S. 443-444.

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