C. Gerlach: The Extermination of the European Jews

Cover
Titel
The Extermination of the European Jews.


Autor(en)
Gerlach, Christian
Reihe
New Approaches to European History
Erschienen
Cambridge 2016: Cambridge University Press
Anzahl Seiten
XI, 508 S.
Preis
$ 29.99
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Stephan Lehnstaedt, Touro College Berlin

Die Ermordung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs ist vielfach beschrieben und wird in zahlreichen Detailstudien nach wie vor untersucht. Die Ergebnisse dieser längst zur eigenen Unterdisziplin der „Holocaust Studies“ entwickelten Forschungen sind selbst für Spezialisten kaum mehr in der Gänze zu überblicken. Umso gespannter darf man sein, wenn mit Christian Gerlach, einem der profiliertesten Wissenschaftler dieses Gebiets, ein ausgewiesener Experte eine neue Gesamtdarstellung vorlegt, die explizit als Synthese und textbook firmiert.

Sein Zugang ist ganz anders als der angloamerikanischer Wissenschaftler, die dergleichen eher in Form einer Erzählung mit vielen Zitaten aus Opferquellen präsentierten: Gerlach gliedert seine Untersuchung thematisch und nicht chronologisch, fragt nach Strukturen und schreibt eine Sozialgeschichte der Massengewalt. Und anstatt nur eine einzige Erklärung, eine Hauptursache für den Genozid zu liefern, werden multikausal verschiedene interdependente Faktoren wie Ideologie, Politik und Ökonomie als Voraussetzungen für den Massenmord abgehandelt. Ganz ohne einen zeitlichen Überblick geht es indes doch nicht: Der erste von drei Hauptteilen besteht aus einer Schilderung der deutschen Maßnahmen, von den Wurzeln des Antisemitismus vor 1933 über das Mordgeschehen selbst bis hin zur Befreiung 1945. Aber schon hier wird ganz deutlich, dass die große Stärke des Buchs in der Vermessung der quantitativen Dimension liegt. Gerlach analysiert bewusst Statistiken, nennt Zahlen von Opfern, Tätern und Überlebenden und vergleicht das Vorgehen in den unterschiedlichen Gebieten des deutsch besetzten Europas.

Dieses erste Drittel des Buchs schließt mit der gesonderten Untersuchung von Strukturen und Akteuren des Holocaust. Daran schließt sich ein zweiter Teil an, der sich getrost als das Herzstück der Studie bezeichnen lässt. Gerlach kann hier auf umfassende eigene Forschungen zurückgreifen und arbeitet immer wieder mit direkten Quellenverweisen anstatt der sonst vorherrschenden Literaturbelege. Ganz deutlich wird, wie sehr ihn nach wie vor die Frage nach den Ursachen der Vernichtung umtreibt – die er ganz entschieden nicht in allgemeinen, soziologischen Gewaltphänomenen sieht, sondern in einer von oben nach unten gesteuerten Politik, die angesichts des Kriegsverlaufs stetig wechselnde Prioritäten verfolgte. So konkurrierte die Ausnutzung jüdischer Arbeitskraft mit dem Wunsch, möglichst viele Esser zu ermorden, um die eigene Bevölkerung versorgen zu können; die Vorstellung, dass Juden Träger des Widerstands, ja die personifizierten Partisanen seien, offenbarte sich der NS-Führungsschicht mit zunehmendem Kriegsverlauf immer mehr und trug ebenfalls zum Vernichtungswillen bei. Und selbstverständlich stand hinter all dem eine rassistische Ideologie, deren Einfluss auf die Bevölkerung Gerlach jedoch nicht als alleine hinreichenden Faktor für einen Völkermord sieht – die erstgenannten Aspekte sind ihm zufolge wesentlicher.

Ein dritter Hauptteil beleuchtet die europäische Dimension des Holocaust. Vergleichende Unterkapiteln handeln die antijüdische Gesetzgebung der mit Deutschland verbündeten und befreundeten Staaten ab, deren Beteiligung am Genozid jenseits legislativer Maßnahmen und die Rolle des Antisemitismus in Europa. So kann Gerlach Gemeinsamkeiten und nationalsozialistische Besonderheiten zeigen und klar belegen, inwieweit die Deutschen für die Vernichtung auf ausländische Hilfe angewiesen waren. Lediglich wie eine Pflichtübung wirkt demgegenüber ein weiteres Unterkapitel, in dem die Juden und ihre Handlungsoptionen im Mittelpunkt stehen. Erneut geht es aber nicht um individuelle Reaktionen oder Perzeptionen, sondern hauptsächlich um den zahlengestützten Vergleich von Überlebenschancen und -strategien.

Nichts von alledem ist im Einzelnen wirklich neu. Aber das muss es bei einer synthetisierenden Überblicksdarstellung auch gar nicht sein. Gerlach zementiert seine bekannten – und nicht immer unumstrittenen – Thesen, die auf umfassenden, quellengesättigten Forschungen beruhen, und weist vereinzelt auf konkurrierende Sichtweisen hin. Am Ende fasst er seine Überlegungen einmal mehr unter dem Rubrum der „extrem gewalttätigen Gesellschaften“ zusammen. Besonders gelungen ist, dass er konstant andere Opfergruppen mit in seine Überlegungen einbezieht und den Holocaust nicht als alleinstehendes Mordgeschehen betrachtet, sondern im Kontext mit der Gewalt etwa gegen sowjetische Kriegsgefangene, Sinti und Roma oder „Partisanen“. In einer Gesamtdarstellung hat man eine derartige Kontextualisierung so noch nicht gesehen, und es trägt durchaus zum Verständnis und zur Einordnung bei.

Wenn Gerlach hingegen fordert, dergleichen müsse außerdem gezielt erforscht werden, so offenbart sich das zentrale Problem dieser Studie: Die Literaturrezeption beschränkt sich auf deutsche und englische Titel, und Monographien jüngerer Historikerinnen und Historiker seit etwa 2010 wurden überhaupt nur sehr selektiv wahrgenommen 1. Gerade Opfergruppen übergreifende Untersuchungen sind hier aber recht häufig, und zahlreiche neuere Ergebnisse hätten die präsentierten Befunde wohl nicht umgestoßen, aber doch in Teilen nuanciert und vor allem ergänzt. Dies gilt auch und gerade für Studien zu und aus Osteuropa. Allgemein gesprochen ist das jedoch ein eventuell nicht einlösbares Desiderat, denn ob sich ein historisches Ereignis mit europäischen Dimensionen angesichts der stets wachsenden Literaturfülle überhaupt noch von einer Einzelperson beschreiben lässt, sei dahingestellt.

Bei Gerlach ist jedenfalls alles Struktur und Ökonomie. Die Ideengeschichte von Rassismus und Antisemitismus bleibt blass. Akteure insbesondere auf niederen Ebenen, soziale Netzwerke und Dynamiken spielen keine Rolle, theoretisch fundierte Zugriffe gibt es nicht. Und bei der gewählten Perspektive werden jüdische und andere Opfer zu Zahlen reduziert. Ihr Leid, ihre Sichtweisen und ihre Lebenswelten bleiben vollkommen außen vor. Für die Täterforschung stellt das Buch so eine höchst wertvolle Orientierung dar, aber dass damit der Zweck einer Reihe für Schüler und Studenten erfüllt ist, darf bezweifelt werden. Am Ende bietet Gerlachs Werk einen hochanalytischen, vergleichenden und einordnenden Zugriff auf den Holocaust, der so bislang von keiner Überblicksdarstellung geleistet wurde. Die Systematik ist bestechend und erlaubt es – bei gewissen unvermeidlichen Wiederholungen –, einzelne Aspekte des Genozids separat in den Blick zu nehmen, ohne dass die übergreifenden Zusammenhänge verloren gehen.

Anmerkung:
1 Ohne hier eine Liste „fehlender“ Literatur liefern zu wollen, verwundert insbesondere, dass die wegweisende Quellenedition „Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland“ nicht genutzt wurde – bis 2015 erschienen immerhin acht Teile –, zumal die umfassenden Einleitungen zu den jeweiligen Regionalbänden eine ausgezeichnete Orientierung gerade bei fremdsprachiger Literatur bieten.

Redaktion
Veröffentlicht am
16.11.2016
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