M. Ruoss: Fürsprecherin des Alters

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Titel
Fürsprecherin des Alters. Geschichte der Stiftung Pro Senectute im entstehenden Schweizer Sozialstaat (1917–1967)


Autor(en)
Ruoss, Matthias
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
340 S.
Preis
€ 65,00
URL
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Florian Müller, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Die Zukunft der Alterssicherungssysteme der Industriestaaten ist gegenwärtig in Politik und Öffentlichkeit abermals Gegenstand kontroverser Diskussionen. Ein weiteres Mal wird etwa in der Schweiz in den Debatten um das Reformprojekt „Altersvorsorge 2020“ von verschiedener Seite die finanzielle Tragfähigkeit der Alterssicherungssysteme angezweifelt. Der Blick der Historikerinnen und Historiker kann hier zur Diskussion beitragen. Seit den 1990er-Jahren ist ein wachsendes Interesse der Geschichtswissenschaft an der Altersvorsorge als einem der zentralen Pfeiler der Sozialen Sicherheit in der Schweiz festzustellen.1 Neue Impulse, unter anderem aus der Geschlechtergeschichte, konnten die Entstehungsgeschichte und Entwicklung der staatlichen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) differenzieren.2 Jüngere Forschungen haben die Bedeutung der beruflichen Altersvorsorge bei der Entstehung des spezifischen, für die Schweiz kennzeichnenden, komplementären Vorsorgesystems hervorgehoben.3

Mit der Untersuchung der Stiftung „Für das Alter“ (seit 1978 „Pro Senectute“), der wichtigsten gemeinnützig-privaten bzw. parastaatlichen Organisation zur Unterstützung alter Menschen in der Schweiz, schließt Matthias Ruoss eine wichtige Forschungslücke. Die Dissertation zeigt überzeugend den Einfluss der Stiftung auf die Altersdiskurse in der Schweiz auf und leistet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Rolle nichtstaatlicher gemeinnütziger Organisationen bei der Entstehung des Sozialstaates.

Auf Initiative von zehn Männern aus dem bürgerlich-protestantischen Milieu des Kantons Zürichs konstituierte sich im Jahr 1917 unter dem Patronat der Gemeinnützigen Gesellschaft die Stiftung „Für das Alter“. Die gemeinnützige Organisation setzte sich zum Ziel, die Situation bedürftiger alter Menschen in der Schweiz zu verbessern. Ein Zentralsekretariat wurde mit den laufenden Geschäften betraut, während ein zwölfköpfiges Direktionskomitee die Stiftungspolitik verantwortete. Die eigentliche fürsorgerische Tätigkeit war regional organisiert. Bis Ende 1920 existierten in allen Kantonen souveräne Kantonalkomitees, welche die Fürsorgearbeit vor Ort mit tausenden ehrenamtlichen Helfer/innen bewerkstelligten.

Der Schwerpunkt der Studie liegt auf der Untersuchung der gesamtschweizerischen Stiftung. Auf die Tätigkeit der einzelnen Kantonalkomitees geht Ruoss nur vereinzelt ein. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre von 1917 bis 1967.

Ruoss ordnet die Studie in die Forschungen zur nicht-staatlichen Gemeinnützigkeit sowie zur Verwissenschaftlichung des Sozialen und in die Wohlfahrtsforschung ein. Unter einem wissens- und sozialpolitikhistorischen Ansatz zeigt Ruoss schlüssig die „Doppelrolle“ der Stiftung als „Fürsprecherin des Alters“ (S. 13) auf, die einerseits die öffentlichkeitswirksame Problematisierung des Alters und anderseits die materielle und immaterielle Unterstützung alter Menschen beinhaltete. Die Studie geht dabei weit über die eigentliche Geschichte der Stiftung hinaus. Ruoss zeichnet ausführlich und unter der sorgfältigen Auswertung einer Fülle von sehr unterschiedlichen Quellen die sozialpolitischen Debatten um die Einführung der AHV und die gesellschaftlichen Problematisierungen des Alters von der Zwischenkriegszeit bis in die 1960er-Jahre nach.

Die Studie ist weitgehend chronologisch aufgebaut. Einer Einleitung folgen in drei klar strukturierten Teilen die Darstellung der Gründung, der Vor- und der Nachphase der Einführung der AHV. Im ersten Teil zeichnet Ruoss nach, wie der ehemalige Werbechef der Firma Maggi und erste Zentralsekretär, Maurice Champod (1879–1967), die Stiftung nicht nur als Mittel zur Unterstützung alter Menschen, sondern auch zur Stabilisierung der als bedroht angesehenen gesellschaftlichen Ordnung ansah. Champod und sein Nachfolger, der promovierte Jurist Werner Ammann (1887–1962), waren früh darauf bedacht, die Stiftung über eine „Neuproblematisierung des Alters“ (S. 52) auf dem Feld der sozialen Wohlfahrt zu positionieren und ihre Daseinsberechtigung über die Implementierung der AHV hinaus zu sichern. Wie Ruoss anschaulich darlegt, bedienten sie sich dabei einer Umdeutung der „Altersarmut“ in „Altersnot“ und betonten die psychosozialen Nöte alter Menschen. Das in Abgrenzung zu den debattierten staatlichen Alterssicherungssystemen entwickelte Arbeitsprogramm der „Alterspflege“ ging über eine rein materielle Altersfürsorge hinaus und betonte die sich ergänzende Aufgabenteilung zwischen Stiftung und Staat.

Im folgenden Teil arbeitet Ruoss die politischen Debatten um den langen Prozess bis zur Einführung der AHV von den 1920er-Jahren bis 1948 auf. Mit der retardierten Einführung einer gesamtschweizerischen Alterssicherung sah sich die Stiftung veranlasst, die projektierte Alterspflege zugunsten der finanziellen Unterstützung alter Menschen durch die Stiftung aufzuschieben. Die Stiftung avancierte dabei zur wichtigen Sozialpartnerin des Bundes. Ab 1929 erhielt sie (bescheidene) Bundessubventionen und im Fürsorgesystem des Bundes ab 1934 nahm sie eine wichtige Stellung ein. Wie Ruoss argumentiert, konnte der Bund mit der Stiftung als Partnerin über eine „Politik der Hintertüren“ eine „Sozialstaatsentwicklung von unten“ (S. 93) betreiben und dabei – dem finanzpolitischen Primat getreu – die finanzielle Belastung mit dem Aufschub eines umfassenden Alterssicherungssystems geringhalten.

Die Altersfürsorge der Stiftung unterstützte mit jährlich über 40.000 Personen bis ins Jahr 1942 eine große Anzahl alter Menschen. Für die Betroffenen bedeuteten die Zuschüsse eine essentielle finanzielle Erleichterung. Dennoch ist zur Debatte zu stellen, ob Ruoss in der ansonsten aufschlussreichen Darstellung nicht eine zu hohe materielle Bedeutung der Unterstützungsleistungen suggeriert. Wie Ruoss selbst betont, deckten die Unterstützungen der Stiftung bei weitem nicht die Lebenskosten. Die Funktion der Altersfürsorge der Stiftung ist dann auch eher als Auffangnetz anzusehen, das alten Menschen in Verbindung mit anderen Einkommen oder der Unterstützung der Familie einen minimalen Grundbedarf ermöglichen bzw. sie vor dem Gang zum Armenamt bewahren sollte. Im Vergleich mit der beruflichen Vorsorge und der AHV ab 1948, aber auch der Armenfürsorge und den öffentlichen Altersbeihilfen, die in einzelnen Kantonen und Städten existierten, fielen die ausbezahlten Gesamtbeträge relativ bescheiden aus. So lagen die Unterstützungsleistungen der Stiftung beispielsweise im Jahr 1941 bei unter vier Prozent der Auszahlungen der beruflichen Altersvorsorge.4 Ruoss hätte deshalb gut daran getan, stärker die symbolische vor der materiellen Bedeutung der Altersfürsorge der Stiftung zu betonen.

Die Zusammenarbeit des Bundes und der Stiftung dauerte über das Jahr 1948 hinaus an. Die Einführung der AHV, so die These von Ruoss, habe anders als es die Historiografie oft darstelle, keinen radikalen Systemwechsel zur Folge gehabt. Er betont, dass das Fürsorgesystem neben der AHV bestehen blieb und ein „duales staatliches Altersvorsorgesystems“ (S. 180) eingerichtet worden sei, das sowohl (bescheidene) Versicherungs- als auch Fürsorgeleistungen vorsah.

Neben der Differenzierung der bisherigen Geschichtsschreibung zur Einführung und Ausgestaltung der Alterssicherung in den 1920er- bis 1940er-Jahren zeigt Ruoss überzeugend gesellschaftliche Diskurse um die alternde Gesellschaft auf. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der Blick auf gesellschaftliche Problematisierungsprozesse, die in der bisherigen Forschung im Falle des „Überalterungsdiskurses“ (S. 161) nicht in dieser Tiefe und im Falle der „Entdeckung der Altersarbeitslosigkeit“ (S. 147) kaum Beachtung gefunden haben. Über die Stiftung als Ausgangspunkt gibt er Einblicke in breitere gesellschaftliche Entwicklungen. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive ist hingegen zu bedauern, dass Ruoss – bewusst und bedingt durch den methodischen Ansatz – wie die übrige bisherige Forschung kaum auf die Fürsorgepraxis und die konkrete (materielle) Lebenssituation der unterstützten Menschen eingeht.

Im dritten Teil stellt Ruoss einleuchtend dar, wie die Stiftung nach der Einführung der AHV ihre Tätigkeit neu ausrichtete. Die finanzielle Unterstützung alter Menschen trat in den Hintergrund. Die Stiftung wandelte sich zu einer Fach- und Dienstleistungsorganisation und vollzog einen „programmatische[n] Wandel von der arbeitsorientierten zur freizeitfördernden Alterspflege“ (S. 237). Sie stützte sich dabei auf Erkenntnisse der Altersforschung und trat als deren Vermittlerin und Promotorin auf. Wie Ruoss zeigt, beteiligten sich zentrale Personen der Stiftung am transnationalen Forschungsaustausch und pflegten enge Kontakte zu Forschungs- und Ausbildungsstätten sowie zu wissenschaftlichen Vereinigungen. Auch hier wendet sich Ruoss neuen, kaum erforschten Themenbereichen zu. In transnationaler Perspektive zeichnet er nach, wie sich die Alter(n)sforschung in der Schweiz als wissenschaftliche Disziplin etablierte. Mit der Wohnungsfrage alter Menschen thematisiert Ruoss zudem ein wichtiges Tätigkeitsfeld der Stiftung, das den Blick auf den bedeutenden und bisher in der Forschung vernachlässigten Lebensbereich des Wohnens ermöglicht.

Die Stiftung „Für das Alter“ avancierte zur gefragten Expertin für Altersfragen. Höhepunkt stellte diesbezüglich die Leitung der durch den Bund einberufenen Kommission für Altersfragen dar, deren Schlussbericht die 7. AHV-Revision von 1968 stark prägen sollte.

Die Studie endet mit der Publikation des Schlussberichts zum 50-jährigen Bestehen der Stiftung im Jahr 1967. Gerne hätte man hier auch mehr über die weitere Entwicklung der Stiftung nach der folgenden institutionellen und paradigmatischen Zäsur, die Ruoss in der Einleitung andeutet, erfahren. Insgesamt hat Matthias Ruoss eine sehr durchdachte und fundierte Untersuchung der Stiftung „Für das Alter“ vorgelegt, die weit über die eigentliche Geschichte der Stiftung hinausgeht und die bisherige historiographische Forschung zum Alter(n) (in der Schweiz) methodisch und inhaltlich maßgeblich erweitert und differenziert.

Anmerkungen:
1 Zum Forschungsstand vgl. Brigitte Studer, Ökonomien der sozialen Sicherheit, in: Patrick Halbeisen / Margrit Müller / Béatrice Veyrassat (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert, Basel 2012, S. 923–974; <http://www.geschichtedersozialensicherheit.ch/home/> (23.05.2016).
2 Vgl. u.a. Christine Luchsinger, Solidarität, Selbstständigkeit, Bedürftigkeit. Der schwierige Weg zu einer Gleichberechtigung der Geschlechter in der AHV. 1939–1980, Zürich 1995.
3 Vgl. insbesondere Matthieu Leimgruber, Solidarity without the State? Business and the Shaping of the Swiss Welfare State. 1890–2000, Cambridge 2008.
4 Für statistische Daten zur beruflichen Altersvorsorge vgl. Leimgruber, Solidarity without the State, S. 301.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.06.2016
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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