J. Tanner: Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert

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Titel
Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Tanner, Jakob
Reihe
Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert
Erschienen
München 2015: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
676 S.
Preis
€ 39,95
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sonja Matter, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

In den letzten Jahren ist eine ganze Reihe an Überblickswerken zur Schweizer Geschichte erschienen. Diese reiche Publikationsstätigkeit kann unterschiedlich interpretiert werden: Als Aufholbedürfnis, da nach dem Standardwerk „Die Geschichte der Schweiz und der Schweizer“ (1982–83) mehrere Jahre keine umfassenden Überblicksdarstellungen mehr erschienen sind; oder aber als Folge eines gesteigerten Orientierungsbedürfnisses. Die Rückbesinnung auf die historischen Wurzeln scheint nicht zuletzt daher bedeutsam, da die Schweiz sich als Nation in einem veränderten europäischen und globalen Kontext neu zu positionieren hat. Dass die Geschichtswissenschaft allerdings nur bedingt auf Geschichtspolitik einzuwirken vermag, dürfte nach dem Schweizer „Superjubiläumsjahr 2015“ – an dem etwa der Schlachten von Morgarten (1315) und Marignano (1515) erinnert wurde – deutlich geworden sein: Lautstark werden von rechtsnationalen Kreisen nach wie vor diejenigen historischen Ereignisse als konstitutiv hervorgehoben, deren Bedeutung für die moderne Schweiz von der Geschichtswissenschaft bereits seit mehreren Jahren relativiert wird.

Jakob Tanners Überblicksdarstellung der Schweiz im 20. Jahrhundert nimmt auf das Spannungsfeld von Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft ebenfalls Bezug. Dezidiert weist er darauf hin, dass die Schweiz sich in historischer Perspektive nicht als „Sonderfall“ interpretieren lasse – als Nation also, die eine singulär andersartige Geschichte habe als die anderen europäischen Staaten. Vielmehr gelte es, nach den Funktionen zu fragen, die die Sonderfall-Erzählungen für den Schweizer Nationsbildungsprozess gehabt haben, und die Teilhabe der Schweiz an den Ambivalenzen der Moderne aufzuzeigen, die sie mit anderen europäischen Staaten teile. Der fachwissenschaftliche Anspruch dieser Studie geht indes weit über die Auseinandersetzung um die Sonderfall-These hinaus: Die Studie erschien in der von C.H. Beck herausgegebenen Reihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert“. Ziel dieser Reihe ist es, die Geschichten der europäischen Staaten und Gesellschaften je für sich zu erzählen, „aber zugleich im Kontext der europäischen Entwicklungen und der globalen Verflechtungen“, wie Ulrich Herbert, der Herausgeber der Reihe, im Vorwort ausführt (S. 8).

Jakob Tanner hält fest, dass sich die Moderne „nicht mehr eindimensional und unilinear lesen“ lasse (S. 19). Dieser Überzeugung folgend verfasst er die „Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert“ auch nicht als sich fortlaufend entwickelnde Narration. Vielmehr rückt er in drei chronologischen Teilen vielfältige Ereignisse, Diskurse und Entwicklungen der Schweizer Geschichte ins Scheinwerferlicht, ohne diese immer eng miteinander in Beziehung zu setzen. Diese Darstellungsweise verhindert vereinfachende Fortschrittsnarrative und betont stattdessen die Ambivalenzen. Dies ist das erklärte Ziel der Studie: Jakob Tanner sieht die Schweiz im 20. Jahrhundert gerade nicht als „Erfolgsgeschichte“. Vielmehr zeige sich die Geschichte der Schweiz als widersprüchlich. So spielte die Schweiz etwa mit der Durchsetzung einer republikanischen Demokratie (1848) eine Vorreiterrolle. Jakob Tanner weist indes dezidiert darauf hin, dass es in der Geschichte des modernen Bundesstaates zu „menschenrechtswidrigen Behördenentscheiden“, zur „Anwendung von Zwangsmassnahmen“ und „Annullierung von Rechten“ gegenüber Einwohnern und Einwohnerinnen des Landes kam, und die Schweiz den Schutz der Grund- und Menschenrechte auf rechtlicher Ebene vergleichsweise spät ausbaute. Ähnlich kritisch fällt die Beurteilung der wirtschaftlichen Entwicklungen aus. So war die Wohlstandsgenerierung in der Schweiz des 20. Jahrhunderts zwar beträchtlich, doch betont Jakob Tanner, dass sich die Schweiz wirtschaftlich nur zu oft als Trittbrettfahrerin profiliert habe: Die Schweiz konnte beispielsweise die „imperiale Kanonenbootpolitik“ kritisieren und gleichzeitig die Geschäftsgrundlagen, die dadurch gesichert wurden, nutzen. Auch im Verhältnis zwischen der Schweiz und der Europäischen Union stellt Jakob Tanner eine Asymmetrie zugunsten der Schweiz fest. Die Schweiz profitiere einseitig von den öffentlichen Gütern und positiven Externalitäten wie Frieden und Stabilität, welche die EU hervorbringe.

Anhand dieser und weiterer Aspekte legt Jakob Tanner überzeugend dar, dass sich die Geschichte der Schweiz nicht mit der Figur des „Sonderfalls“ oder als „Erfolgsgeschichte“ schreiben lässt. Dies gilt insbesondere auch für die Position der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Kritisch weist die Studie auf Entscheide im Bereich der nachrichtenlosen Vermögen und der Goldtransaktionen hin und verdeutlicht, dass es gerade bei der Flüchtlingspolitik möglich gewesen wäre, „die staatlichen Interessen der Schweiz humanitär zu definieren“ (S. 290).

Wie Jakob Tanner im Fazit festhält, müssen sich die Leser und Leserinnen seines Überblickwerkes auf „eine oft zwischen verschiedenen Sphären gesellschaftlicher Entwicklung mäandrierenden Analyse“ einlassen (S. 551). Allerdings wird auch in dieser labyrinthischen Darstellungsweise ausgewählt, was als geschichtsträchtig gilt und was nicht. Als wegleitend und innovativ ist die Entscheidung zu werten, der Wirtschaftsgeschichte – oder genauer gesagt der Geschichte des Schweizerischen Finanzplatzes – eine prominente Position einzuräumen. Dessen Bedeutung, so der Tenor der Studie, kann für die Schweizer Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nicht unterschätzt werden. Die Studie zeigt auf, wie sich die Schweiz in den 1920er-Jahren zur „Drehscheibe des Kapitals Europas“ entwickelte, wie ein vergleichsweise hoher Wohlstand des Landes erzielt wurde, wie problematisch aber auch die globalen wirtschaftlichen Verflechtungen waren. Beispielhaft dafür steht der umfangreiche Handel mit dem Apartheidstaat Südafrika, aus dem Schweizer Banken hohe Gewinne generierten. Schliesslich ortet Jakob Tanner in der Entwicklung des Schweizer Finanzplatzes ein bis heute ungelöstes Probleme: Während das Bankgeheimnis definitiv der Geschichte angehört, sind die beiden Grossbanken (UBS und CS) in einem worst case scenario noch immer viel zu gross für die Schweiz.

Vielfach ist die Beantwortung der Frage, was als geschichtsträchtig gilt, indes traditionell ausgefallen und man hätte sich von Jakob Tanner, der – wie kaum ein anderer – der Schweizer Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten durch seine methodische und theoretische Versiertheit wegweisende Impulse verliehen hat, andere Schwerpunktsetzungen erhofft. So wird die Geschichte der Schweiz beispielsweise über weite Teile als eine Geschichte von Männern erzählt. Das Allgemeine ist männlich konnotiert, während Aspekte der Frauen- und Geschlechtergeschichte als Ergänzung zu diesem Narrativ platziert werden. Dies lässt sich am Beispiel der frühen Frauenbewegung illustrieren: Obwohl auf diese verwiesen wird, wird nicht erwähnt, dass es sich bei der Frauenbewegung – neben der Arbeiterbewegung – um die grosse soziale Bewegung im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert handelte, die zudem eine für die modernen Gesellschaften essentielle Frage aufwarf: Wie nämlich die Geschlechterordnung neu organisiert werden soll. Schliesslich betont die Studie, dass die Schweiz – wegen des beschämend lange anhaltenden Ausschlusses der Frauen von der politischen Teilhabe (auf nationaler Ebene bis 1971) – nicht als Musterland der Demokratie gelten könne. Auf die Nicht-Wahl von Christiane Brunner als Bundesrätin und den anschliessenden Protest im Jahre 1993 geht die Studie allerdings nicht ein, obwohl gerade dieses Ereignis paradigmatisch dafür steht, wie zäh und konfliktreich die politische Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Schweiz verlief.

Eine letzte Bemerkung gilt dem Ziel der Studie, die Geschichte der Schweiz „im Kontext der europäischen Entwicklungen und der globalen Verflechtungen“ darzustellen. Insbesondere in wirtschaftsgeschichtlichen Bereichen werden die transnationalen Beziehungen der Schweiz ausgeleuchtet. Die Studie analysiert auch differenziert das spannungsreiche Verhältnis der Schweiz zu suprastaatlichen Organisationen wie der Europäischen Union und internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen. Das Potential, das eine transnationale Perspektive auf die Geschichte der Schweiz eröffnet, ist in der vorliegenden Studie indes nicht ausgeschöpft. So hebt die Studie beispielsweise hervor, dass die „Überfremdungsangst“ im ganzen 20. Jahrhundert beträchtlich war – obwohl die schweizerische Gesellschaft Immigranten und Immigrantinnen sozial und wirtschaftlich durchaus erfolgreich integrierte –, und thematisiert damit den Blick der Schweiz auf die „Fremden“. Doch wie lässt sich die Schweiz in einer europäischen und globalen Migrationsgeschichte situieren? Weshalb kamen die „Fremden“ und wie prägten sie die Schweiz? Oder um es pointierter auszudrücken: Lässt sich für das ausgehende 20. Jahrhundert eine Geschichte der Schweiz „im Kontext der europäischen Entwicklungen“ schreiben, ohne auf die Balkankonflikte der 1990er-Jahre und der damit zusammenhängenden Fluchtbewegungen einzugehen? Die vorliegende Studie favorisiert den nationalen Rahmen und somit werden – um nur ein Beispiel zu nennen – solche und ähnliche europäische oder globale Konflikte und ihre Auswirkungen für die Schweiz nicht in den Mittelpunkt gerückt. Dieser Entscheid mag mit der Konzeption der Reihe, in der die Studie erschien, übereinstimmen; zahlreiche Fragen, die einer transnationalen Geschichte verpflichtet sind, bleiben indes offen. Ohne Zweifel bilden, wie Jakob Tanner überzeugend aufzeigt, die Spannungen und Synergien zwischen Kapitalismus, Demokratie und Nationalmythos einen Schlüssel für das Verständnis der Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert. Diese Erkenntnis dürfte – durch eine noch konsequentere Verknüpfung von lokalen, nationalen und globalen Forschungsperspektiven – zukünftig weiter ausdifferenziert werden.

Redaktion
Veröffentlicht am
02.02.2016
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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