E. Maeder: Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse

Cover
Titel
Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse. Religion, Verwaltung und Wirtschaft in einem ostsibirischen Dorf (1900– 1930er Jahre)


Autor(en)
Maeder, Eva
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Regula Zwahlen, Departement der Philosophie Abt. Kulturphilosophie und Ästhetik, Universität Freiburg / Schweiz

Dem Anspruch, eine «Mikrogeschichte» der ländlichen Gesellschaft Russlands zu schreiben, wird Eva Maeder in vielfacher Hinsicht gerecht: Ihre Studie widmet sich Angehörigen der minoritären Glaubensgemeinschaft der Altgläubigen, die seit dem 18. Jahrhundert ein kleines Dorf namens Bol’šoj Kunalej in Burjatien am äussersten Rande Russlands besiedeln. Damit tritt Maeder in die Fussstapfen der Osteuropahistoriker Carsten Goehrke und Heiko Haumann, die den Fokus ihrer Forschungen auf den russischen Alltag gerichtet haben. Dieser Ansatz bietet eine ergänzende Lesart der frühen Sowjetunion bis in die 1930er Jahre, einer Zeit, deren gigantische Umwälzungen auf der Makroebene bereits gut erforscht sind, von denen jedoch erst ansatzweise bekannt ist, wie sie in der Peripherie, in der sowjetischen Provinz umgesetzt worden sind. Die radikale Veränderung der sowjetischen Gesellschaft galt bekanntlich insbesondere dem Wirtschaftssystem sowie auf ideologischer Ebene der «Befreiung» des Volkes vom Opium der Religion. Daher ist der Fokus Maeders auf die Entwicklung eines Dorfes von Altgläubigen,
die für ihre vorbildliche Arbeitsmoral und wirtschaftlichen Erfolg bekannt waren – auch Max Weber hat sie als «Protestanten der Orthodoxie » bezeichnet (38–39) – reizvoll.

Die Altgläubigen waren auf einem Konzil der russisch-orthodoxen Kirche von 1666/67 als Häretiker aus der Kirche ausgeschlossen worden, weil sie die Veränderungen der orthodoxen Liturgie durch Patriarch Nikon nicht annehmen wollten. Unter dem Druck staatlicher und kirchlicher Verfolgungen flohen die Altgläubigen in abgelegene Gebiete oder wurden im Rahmen der russischen Siedlungspolitik und zwecks Urbarmachung neuer Gebiete von Katharina der Grossen zwangsweise dort angesiedelt. Im Gebiet um das Dorf Bol’šoj Kunalej war dies in den späten 1760er Jahren der Fall. Dort betrieben die altgläubigen Neusiedler trotz hartem Klima bald recht erfolgreich Landwirtschaft und Viehzucht. Sie pflegten bewusst ihre eigene Identität und grenzten sich durch Kleidung, Sprache und Folklore von den ‹häretischen Russen› und den ‹ungläubigen› Burjaten ab (43). Dennoch verliefen die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen in diesem Dorf ähnlich wie in den übrigen Gebieten der Sowjetunion.

Die Arbeit ist in vier zeitliche Perioden gegliedert: die Zeit vor 1917, der Bürgerkrieg bis 1922, die Jahre der «Neuen Ökonomischen Politik (NEP)» Lenins bis 1928 und die Kollektivierung unter Stalin bis ca. 1933. Jede Periode wird anhand der drei stark miteinander vernetzten Themenbereiche Verwaltung (Infrastruktur und Verbindung zum Staatszentrum), wirtschaftliche Verhältnisse (Versorgungs- und Produktionslage) und Glaubensleben (Normen, Kalender, Tagesablauf, Reaktion auf atheistische Propaganda) behandelt, was für eine kontinuierliche Vergleichsbasis zwischen den Zeitabschnitten sorgt. Die Bereiche widerspiegeln Maeders grundlegendes Interesse dafür, wie und «ob Altgläubige die strengen religiösen Normen in der Praxis tatsächlich umsetzten» (13). Eine übergeordnete Diskussion im Sinne von Max Webers Einschätzung der Wechselwirkung zwischen altgläubiger Religion und Wirtschaftstätigkeit (z. B. im Vergleich zur offiziellen Orthodoxie) unternimmt Maeder leider nicht, sie beantwortet die Frage deskriptiv.

Dazu hat Maeder umfangreiche Quellenforschung betrieben und sich in den Archiven von Bol’šoj Kunalej, Tarabagataj, Ulan Ude und Moskau durch teilweise schwer lesbare «Haushaltbücher» und ausführliche Parteiprotokolle vorgearbeitet. Ihre Forschungsleistung besteht insbesondere in der sorgfältigen Rekonstruktion und Einordnung des Entstehungs- und Überlieferungskontexts des stark ideologisch gefärbten Materials. Hierzu dienten vor allem Interviews, die Maeder vor Ort mit älteren Dorfbewohnern und –bewohnerinnen geführt hat. Da für die Zeit von 1917–1928 und für den Raum Transbaikalien mit seiner langen Tradition der dörflichen Selbstverwaltung noch kaum Sekundärliteratur zur Verfügung stand, handelt es sich bei dieser Arbeit um eine Pionierleistung.

Häufige, wenn auch vorsichtige Schlussfolgerungen machen das Buch angenehm lesbar: «Die tiefere Ursache für die religiöse Zersplitterung [in Bol’šoj Kunalej] lag vermutlich im Fehlen einer obersten unumstrittenen Autorität in kirchlichen Fragen.» (73) Obwohl die Altgläubigen ihren Traditionen weitgehend treu blieben, sind mit zunehmender Industrialisierung auch Zeichen der Anpassung an die Moderne zu beobachten, zum Beispiel in der Veränderung der Damenmode und bei der Gründung einer Kredit- (1908) und einer Konsumgenossenschaft (1912). Zu weiteren Spaltungen führte der staatliche Registrierungszwang seit 1918, dem sich Teile von Gemeinden widersetzten, wobei die sowjetische Regierung solche Spaltungen auch aktiv förderte.

Ebenfalls meistert Maeder die Herausforderung, die wichtigen Etappen der schwer nachvollziehbaren Zeit des Bürgerkriegs herauszuschälen: «Zwischen Februar 1917 und 1922 stellten 14 verschiedene Regierungen [...] Anspruch auf die Macht in Transbaikalien » (86). Die Macht der Bol’seviki konsolidierte sich erst 1922, wobei gemäss einem Bericht viele Dorfbewohner nicht wussten, «was eine Revolution ist und dass es sie gegeben hat» (101). Zahlreiche lokale Bauernrevolten führten dazu, dass Lenin 1921 die NEP einführte, welche die Landwirtschaft fördern sollte und auch im religiösen Bereich Konzessionen an die Bauern machte. Der Dorfpartei traten tendenziell nur wenige, v.a. die ärmsten und jüngere Dorfbewohner bei. Für sie waren Zugang zur Bildung, selten materielle Unterstützung und der Erhalt einer Schusswaffe attraktiv. Dennoch kämpfte die Parteileitung vor allem damit, dass «die Altgläubigen den Kommunismus in ihr religiöses Weltbild integrierten» (171) und weiterhin an religiösen Ritualen teilnahmen: «Erst nach 1928 entstanden in den grösseren Dörfern Burjatiens [...] ‹Zirkel der Gottlosen›, die allerdings oft untätig blieben» (174). Im Allgemeinen beklagte sich die Parteizelle bis 1927 über häufige Absenzen, mangelnde Wahlbeteiligung und über die «Passivität» der Dorfsowjetmitglieder. Im Gegensatz zur orthodoxen Kirche genossen die Altgläubigen relativ weitgehende Freiheiten, doch «ohne Einheit standen [sie] dem Vormarsch des Staates machtlos gegenüber» (181).

Ende der 1920er Jahre reagierte Stalin auf den Widerspruch zwischen den radikalen Zielen der Oktoberrevolution und den Konzessionen der NEP an die traditionellen Kräfte und leitete 1928/29 einen radikalen Kurswechsel ein, der eine vollständige Kollektivierung der Landwirtschaft beinhaltete: «Die Parteizelle [enteignete] zuerst die dörfliche Oberschicht und zahlreiche andere Bauern und liquidierte sie dann physisch. Damit entstand ein Klima der Angst, das es der Parteizelle ermöglichte, die Macht im Dorf zu übernehmen» (235). Die Einwohnerzahl sank von 5000 auf 3500 Bewohner, das Dorf verarmte. Ein neues Religionsgesetz von 1929 hatte die Schliessung und den Abbruch zahlreicher Kirchen zur Folge. Die Altgläubigen führten ihre Gottesdienste nun in den eigenen Stuben durch, viele vorher zerstrittene Gemeinden vereinigten sich wieder, an den liturgischen Unterschieden zur orthodoxen Kirche hielten sie aber eisern fest (261). Dabei spielten Frauen eine immer grössere Rolle bei der mündlichen Überlieferung, rituelle Gesten wurden wichtiger (266).

Heute leben die Bewohner von Bol’šoj Kunalej wieder ausschliesslich von ihrer Hofwirtschaft, ein Teil des Landes liegt aufgrund fehlender Ressourcen brach, dennoch hat die Landflucht deutlich abgenommen. In den Nachbardörfern wurden seit 1995 mehrere Kirchen gebaut, das religiöse und kulturelle Leben lebt auf und findet vermehrt auch bei Touristen Interesse. Ungeschrieben bleibt bisher der Folgeband für die Entwicklung des Dorfes zwischen 1930 und der Gegenwart. Es wäre dem von Maeder solid gesponnen und verwobenen Faden zu wünschen, wieder aufgenommen zu werden, um die begonnene exemplarische Mikrogeschichte eines altgläubigen Dorfes in Burjatien im 20. Jahrhundert weiter zu schreiben.

Zitierweise:
Regula Zwahlen: Rezension zu: Eva Maeder, Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse. Religion, Verwaltung und Wirtschaft in einem ostsibirischen Dorf (1900– 1930er Jahre), Zürich, Chronos, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 732-734.