S. Matter: Der Armut auf den Leib rücken

Cover
Titel
Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960)


Autor(en)
Matter, Sonja
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jürg Krummenacher

In der Schweiz gibt es heute elf Hochschulen für Soziale Arbeit. Diese sind in der Bildungslandschaft allgemein anerkannt. Im Jahr 2011 zählten die Hochschulen rund 7.500 Studierende. Vielen von ihnen dürfte kaum bekannt sein, dass ihre Ausbildungsstätte auf die Pionierarbeit von Frauen wie Maria Crönlein in Luzern, Marguerite Wagner- Beck in Genf oder Marta von Meyenburg in Zürich zurück geht. Was auch darauf zurück zu führen ist, dass es bisher keine umfassende Darstellung der Anfänge und Entwicklungsgeschichte der Sozialen Arbeit in der Schweiz gab.

Die Dissertation von Sonja Matter an der Philosophisch-historischen Fakultät der Universität Bern schliesst diese Lücke. Unter dem treffenden Titel «Der Armut auf den Leib rücken» zeichnet die Autorin die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz in der Zeit von 1900 bis 1960 nach. Und sie tut dies mit Bravour. Auf sehr differenzierte Weise und in einer äusserst gut lesbaren Sprache zeigt sie nicht nur auf, wie eng die Professionalisierungsprozesse mit der Schweizer Sozialstaatsentwicklung und der Wissensproduktion verknüpft waren. In einer historisch-machttheoretischen Perspektive legt sie auch überzeugend dar, wie die Entwicklung der Sozialen Arbeit wesentlich durch die Kategorien Geschlecht, soziale Schicht, Konfessionszugehörigkeit, spezifische nationale Rahmenbedingungen und internationale Vorbilder geprägt wurde.

In ihrer Untersuchung richtet Sonja Matter den Blick auf zwei zentrale Akteursgruppen, die sich seit dem frühen 20. Jahrhundert auf unterschiedliche Weise für eine Professionalisierung der Sozialen Arbeit einsetzten. Zum einen waren dies Männer, die in der öffentlichen Armenpflege tätig und Mitglied in Schweizer Fürsorgegremien waren. Im Rahmen der Schweizer Armenpflegerkonferenz, die 1905 auf Initiative von Carl Alfred Schmid und Albert Wild gegründet wurde, debattierten sie über Fürsorgereformen und versuchten, die Ausbildung in Sozialer Arbeit auf Universitätsebene zu verankern. Ein Ziel, das erst 1961 mit der Gründung des Lehrstuhls für Soziale Arbeit an der Universität Freiburg erreicht wurde. Zum andern setzten sich Frauen verschiedener Zweige der frühen Frauenbewegung zum Ziel, die wohltätige und gemeinnützige Arbeit, die Frauen schon damals in grosser Zahl leisteten, zu professionalisieren. Beiden Akteursgruppen war gemeinsam, dass sie nicht zur sozialen Schicht gehörten, aus der die Armen und Bedürftigen stammten. Die meisten Frauen und Männer, welche die Anfänge der Sozialen Arbeit prägten, kamen aus oberen, bürgerlichen Schichten und Beamten- oder Unternehmerfamilien. Dieser soziale Hintergrund hatte auch einen grossen Einfluss auf ihre Armutsinterpretationen und die Methoden, die sie anwandten.

Der Aufbau der Arbeit folgt zeitlichen Abschnitten. Der erste Teil untersucht die ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, richtet den Fokus auf die Biografien der Pionierinnen der Sozialen Arbeit, zeichnet die Entstehungsgeschichten der sozialen Frauenschulen in Zürich, Genf und Luzern nach und stellt die Anfänge der Schweizerischen Armenpflegerkonferenz, der Vorgängerorganisation der heutigen Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), dar. Der zweite Teil beleuchtet die Zeit zwischen 1920 bis in die 1940er Jahre und fragt nach den wissenschaftlichen Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit, die in dieser Zeit diskutiert und vermittelt wurden. Der dritte Teil untersucht die Wandlungsprozesse, welche die Ausbildungsstätten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die frühen 1960er Jahre durchliefen.

Die ersten Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit in der Schweiz wurden unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg praktisch gleichzeitig in Luzern (1918), in Genf (1919) und in Zürich (1920) gegründet. Auf Grund des Ersten Weltkriegs waren breite Bevölkerungskreise in tiefe Armut geraten. Ein grosser Teil der Bevölkerung konnte den Lebensunterhalt nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen und war auf die Unterstützung durch die Armenfürsorge angewiesen. Der Krieg hatte die sozialen Spannungen zwischen der Arbeiterschaft und der Unternehmerschaft vergrössert, was 1918 zum landesweiten Generalstreik führte. Als Aktivistinnen in der frühen Frauenbewegung verfolgten die Gründerinnen der sozialen Frauenschulen eine doppelte Zielsetzung. Sie wollten Frauen eine Berufsausbildung ermöglichen und ihre Rechte und gesellschaftlichen Partizipationschancen erhöhen. Gleichzeitig waren sie von der Überzeugung beseelt, dass die Sozialarbeiterinnen dank «sozialer Mütterlichkeit» einen Beitrag zur Lösung der «sozialen Frage » und Herstellung des sozialen Friedens leisten konnten.

Die ersten Ausbildungsstätten waren stark von internationalen Vorbildern beeinflusst. Dazu gehörten die Settlementbewegung in London und in den USA oder die Soziale Frauenschule in Berlin, die 1908 von Alice Salomon gegründet worden war. Die Schulleiterinnen wirkten auch aktiv in internationalen Gremien der Sozialen Arbeit mit. Auch die Schweizerische Armenpflegerkonferenz orientierte sich an internationalen Vorbildern. So basierte die Vision einer «rationellen» Armenpflege, deren Ziel es war, die einzelnen Armen in ihrer Individualität zu erkennen, auf einem Modell, wie es erstmals in der deutschen Stadt Ebersfeld angewandt worden war. Für die Fürsorgebeamten zentral war die Unterscheidung in «würdige, unverschuldete » und in «unwürdige, selbstverschuldete Arme», die in zahlreichen kantonalen Armengesetzen gänzlich von der Unterstützung ausgeschlossen blieben. Durch die Gründung der Frauenschulen sahen die Exponenten der Schweizerischen Armenpflegerkonferenz ihre Position in der Sozialen Arbeit gefährdet. Mit der Begründung von unterschiedlichen geschlechtsspezifischen «Wesensneigungen» wehrten sich die Männer gegen Frauen in Führungspositionen der öffentlichen Fürsorge und sahen diese höchstens als «Hilfskräfte».

Einen grossen Raum in der Arbeit von Sonja Matter nimmt die Auseinandersetzung mit der Entwicklung der Grundprinzipien und Handlungsmethoden der Sozialen Arbeit ein. Dazu gehört zum einen die Darstellung des «Vademecums für Armenpfleger», das bis 1955 das Handbuch für die fürsorgerische Praxis bildete, grossen Wert auf die Erforschung der Ursachen der Bedürftigkeit legte und von einem paternalistischen Selbstverständnis der Fürsorgebeamten und disziplinierenden Fürsorgepraktiken geprägt war. Zum andern analysiert die Autorin die Entwicklung der Unterrichtsprogramme der sozialen Frauenschulen von ihren Anfängen bis zur Internationalisierung der Sozialen Arbeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Der internationale Austausch führte unter anderem zur Übernahme der in den USA entwickelten Methoden des Social Casework und später des Social Groupwork sowie der Community- Organisation. Zudem wurden Psychologie, Psychoanalyse und Gesprächstherapie zu einflussreichen Leitwissenschaften der Sozialen Arbeit. Schliesslich trugen die neuen Ansätze der Beratung dazu bei, hilfsbedürftige Menschen darin zu unterstützen, selbständig Lösungen zu finden.

Intensiv befasst sich Sonja Matter auch mit den gesellschaftspolitischen Diskursen zu Armut und dem Wandel der normativen Grundlagen der Sozialen Arbeit. Überzeugend legt sie dar, dass die Soziale Arbeit in verschiedenen Zeitperioden sehr stark auf die individuellen Ursachen von Armut und Bedürftigkeit fokussierte und zu wenig nach den strukturellen Ursachen von Armut fragte und diese politisch zu lösen versuchte – eine Forderung, wie sie die Anhängerinnen der Settlementbewegung bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts formuliert hatten und die dann später von der 68er Bewegung erneut erhoben werden sollte. Es ist deshalb durchaus schlüssig, dass die Arbeit mit den frühen 1960er Jahren aufhört.

Dank der sehr differenzierten, kenntnisreichen und systematischen Darstellung der Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz in der Zeit von den Anfängen bis 1960 dürfte die Publikation von Sonja Matter schon bald zu einem Standardwerk an den Ausbildungsstätten für Soziale Arbeit werden.

Zitierweise:
Jürg Krummenacher: Rezension zu: Sonja Matter, Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960), Zürich, Chronos Verlag, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 722-725.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in
Weitere Informationen