C. Pschichholz: Zwischen Diaspora, Diakonie und deutscher Orientpolitik

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Titel
Zwischen Diaspora, Diakonie und deutscher Orientpolitik. Deutsche evangelische Gemeinden in Istanbul und Kleinasien in osmanischer Zeit


Autor(en)
Pschichholz, Christin
Erschienen
Stuttgart 2011: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alexander Clauß, Herbert Quandt-Stiftung

Die Geschichte und Gegenwart von Christen im Osmanischen Reich wie der Türkischen Republik ist ein spannungsgeladenes Thema. Die Brisanz wird durch die in der Türkei eher nationalistisch geprägte Debatte über die Missionsbewegungen des 19. Jahrhunderts noch verstärkt. Die Kieler Historikerin Christin Pschichholz zeichnet in ihrer Dissertation über die deutschen evangelischen Gemeinden in Istanbul und Kleinasien ein differenziertes Bild, das der komplexen Realität in ihren vielen Facetten gerecht wird. Sie nimmt den Leser mit auf eine spannende «Zeitreise» in das Osmanische Reich zwischen 1843 und 1918. Wer waren und welche Motive hatten deutschsprachige Migranten? Welche kirchlichen Konturen entwickelten sich im osmanischen Umfeld? Welchen Einfluss übten die Auslandsdiasporafürsorge und die deutsche Aussenpolitik auf die Gemeindearbeit aus? Und wie positionierten sich die Pastoren hinsichtlich der innenpolitischen Konflikte und besonders der christlichen Bevölkerung im Osmanischen Reich?

Ging die bisherige Forschung eher von einer Monokulturalität der deutschen Migranten in Istanbul aus, so kann Pschichholz dies anhand von Kirchenbüchern und Korrespondenzen deutscher Pfarrer widerlegen. Deutsche Migranten waren meist Einzeleinwanderer ganz unterschiedlicher geographischer Herkunft. Während Handwerker oft durch wirtschaftliche Not in die Hafenstädte getrieben wurden, zog die kommerzielle Attraktivität der ägäischen Metropolen die Kaufleute an. Die Hafenstädte Istanbul und Izmir dienten daher nicht nur als Durchgangsstation, sondern auch als dauerhafter Sitz vieler Migranten. Entgegen gängiger Lehrmeinung integrierten sich die Einwanderer in das heterogene gesellschaftliche Umfeld. Das vielschichtige Eingliederungsrepertoire verlief dabei nicht entlang konfessioneller oder ethnischer Grenzen, sondern vielmehr entlang beruflicher Positionen. Diese These ist gerade auch im Vergleich zur Situation in der Levante bemerkenswert, wo deutsche (christliche) Migranten zwar auch aus religiösen und beruflichen Gründen einwanderten, sich aber eher in Kolonien organisierten bzw. separierten statt sich in die neuen Gesellschaften zu integrieren.

Die ersten Gemeindegründungen in Izmir und Istanbul waren informeller Art. In Istanbul schlossen sich deutsche Protestanten zu Beginn des 19. Jahrhunderts den schwedischen und holländischen evangelischen Gottesdiensten an, bis sie 1843 zusammen mit französischen Protestanten eine eigene Gemeinde gegründeten. Nach dem Vorbild der Inneren Mission wurden zugleich ein Wohltätigkeits- und ein Schulverein gegründet, die wiederum die Organisation eines eigenen Krankenhauses übernahmen. Einige Jahre war bereits Ähnliches in Izmir geschehen, als 1759 der erste Geistliche von Halle über Augsburg nach Izmir entsandt wurde. Mit dem Bau der anatolischen Eisenbahntrasse sahen sich die Gemeindepastoren in Istanbul und Izmir auch mit der Aufgabe betraut, in anderen Städten, wie beispielsweise Edirne, Trabzon oder Bursa deutschsprachige Protestanten zu betreuen. Die kirchensoziologische Studie von Pschichholz fördert dabei grosse Unterschiede in der Zusammensetzung der einzelnen Gemeinden je nach geographischer Lage zu Tage. Die Gemeinden entlang der Bahntrasse sind durch Arbeiter und deutsche Beamte vor Ort gekennzeichnet. Istanbul bot parallel zur Einrichtung der Deutschen Botschaft eine höhere Diversifikation in deutsche Ärzte, Kaufleute, Juristen, Lehrer und Handwerker. Dennoch konnten eine gemeinsame Gemeinde und der Aufbau von Gemeindeinstitutionen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei den Gemeinden um Gruppierungen ohne festen Zusammenhalt handelte.

Fragen nach der Leitung und Kontrolle der christlichen Vereine führten zu Verbindungen mit heimatlichen Einrichtungen der Diasporafürsorge, wie den Anstalten der Kaiserswerther Diakonie, dem Zentralausschuss für Innere Mission und dem Gustav- Adolf-Verein. Die Verbindung von sozialer Arbeit mit volksmissionarischen Ansprüchen lebte in der Auslandsdiasporafürsorge fort, wurde jedoch erweitert, indem das Konzept einer inneren und nationalen Kolonisation mit kirchlicher sozialer Arbeit einherging.

Preußische Gesandte betrachteten Kirchgemeinden als eine Möglichkeit, kirchliche Aktivitäten mit wirtschaftlichen Interessen zu verbinden. Die Stärkung kirchlicher Institutionen zielte auf eine informelle Expansion ab. Übergeordnetes Ziel war es, eine auf das Deutsche Reich gerichtete wirtschaftliche Abhängigkeit des Osmanischen Reiches zu erreichen. Auch den Argumentationen des Gustav-Adolf-Vereins und der Leitung der Kaiserwerther Anstalten lagen ähnliche Motive zu Grunde, auch wenn hier die Auslandsgemeinden als Ausgangspunkt evangelischer Missionsarbeit angesehen wurden, was allerdings im Osmanischen Reich mit gravierenden Problemen verbunden war.

Diese Motive konvergierten bei den entsandten Pastoren zu komplexen Handlungsmotiven, in denen evangelische Auslandsfürsorge, Mission und koloniale Phantasien ineinander griffen. Seelsorge und Fürsorge für arme Migranten waren wichtige Motive der Geistlichen. Die europäischen Grossmächte versuchten, durch die Protektion einheimischer Christen innerhalb des Osmanischen Reiches Fuss zu fassen. Das war kein leichtes Unterfangen bei der überschaubaren Zahl der Christen und eines Konkurrenzkampfes zwischen den europäischen Protektoren um die Christen. Deshalb mussten die Pastoren oftmals überhaupt erst ein (deutsches) protestantisches Klientel «erschaffen», das es zu beschützen galt. Gerade das ausgeprägte konfessionelle und nationale Konkurrenzdenken der europäischen Grossmächte förderte den Aufbau kirchlicher Einrichtungen. Durch die Verschränkung kirchlicher und politischer Interessen innerhalb der Diasporafürsorge wurden die Auslandsgemeinden informell (und zum Teil auch formell) zu Boten auswärtiger Kulturpolitik. Erst seit den 1890er Jahren wurde unter Bismarck eine staatliche Unterstützung der kirchlichen Aktivitäten vermieden, um das europäische Gleichgewicht nicht zu gefährden. Hinsichtlich der Armenier war das Verhältnis evangelischer Pastoren einerseits geprägt von der Faszination und Hinwendung zu einem der ältesten Christenvölker, andererseits herrschte eine teils rassistisch, stigmatisierende Deklassierung der armenischen Bevölkerung. Die protestantische Staatsloyalität begrenzte die Solidarität der Geistlichen mit der armenischen Bevölkerung stark.

Mit dieser kirchensoziologischen Arbeit ergänzt Pschichholz ein wichtiges Kapitel protestantischer Missionsgeschichtsschreibung. Obwohl die Autorin ausschliesslich deutsche staatliche und kirchliche Quellen sowie die Berichte der Pastoren nutzt, bewahrt sie sich den Blick über nationale Kategorien hinaus. Natürlich wären zusätzliche osmanische, griechische und armenische Quellen eine Bereicherung. Sicherlich ist es auch auf die Begrenzung des Themas zurückzuführen, dass die Frühgeschichte der Gemeindebildung in Izmir im 18. Jahrhundert nur im Überblick angeschnitten wird. So hätte die Dänisch-Hallesche Mission sicherlich einer Erwähnung bedurft. Wer sich aber für die Geschichte deutscher evangelischer Gemeinden in Istanbul und Kleinasien im 19. Jahrhundert interessiert, findet in diesem Werk eine glänzend geschriebene und methodisch gut reflektierte Untersuchung, die sowohl Laien als auch Experten empfohlen
werden kann.

Zitierweise:
Alexander Clauss: Rezension zu: Christin Pschichholz, Zwischen Diaspora, Diakonie und deutscher Orientpolitik. Deutsche evangelische Gemeinden in Istanbul und Kleinasien in osmanischer Zeit, Stuttgart, Verlag W. Kohlhammer 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 106, 2012, S. 714-715.

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