C. Rothen: Verwaltung, Aufsicht und Steuerung der Primarschule

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Titel
Selbstständige Lehrer, lokale Behörden, kantonale Inspektoren. Verwaltung, Aufsicht und Steuerung der Primarschule im Kanton Bern, 1832–2008


Autor(en)
Rothen, Christina
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
€ 52,00
URL
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Bettina-Maria Gördel, Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung, Remscheid

Christina Rothen widmet sich in ihrer Dissertation dem Thema der Educational Governance aus historisch-systematischer Sicht. Dazu hat Rothen entsprechend des historischen Ansatzes der longue durée eine längsschnittliche Perspektive auf die institutionellen Entwicklungen der Verwaltungs- und Schulakteure im Primarschulbereich einer Gemeinde des Kantons Bern von 1832 bis 2008 gewählt. Mit dieser Perspektive möchte sie „neue Interpretationsmöglichkeiten eröffnen, indem den einzelnen bildungspolitischen Entscheidungen ihr solitärer Charakter des großen Ereignisses genommen wird und langfristige Veränderungen sowie langfristige Kontinuitäten aufgezeigt werden“ (S. 21). Von der kantonalen Ebene über die Gemeinden bis hin zur Schul- und Unterrichts- sowie Lehrer/innen- und SchülerInnenebene beschreibt Rothen die Entwicklungen in der Primarschulverwaltung unter typischen Fragestellungen der Educational Governance-Perspektive: Wandel von Behörden und Gremien, deren Organisations- und Steuerungsstrukturen, Einfluss- und Entscheidungskompetenzen sowie Steuerungsinstrumente und deren Wirkungen. Vereinzelt bricht sie die Makroanalyse der Strukturen durch eine detailliertere Mikroanalyse zu den Gründen für die Veränderungen auf. In einem abschließenden Kapitel analysiert und interpretiert Rothen Kontinuitäten und Wandel vor dem Hintergrund von „demokratietheoretischen Überlegungen, Professionalisierungskonzepten und (quasi)ökonomischen Verwaltungs- und Managementmodellen“ (S. 234) auf die Fragestellung hin, inwieweit durch die neuesten institutionellen Veränderungen mit der liberal-demokratischen Bildungsidee und Governance-Tradition in der Schweiz gebrochen wird.

Mit der Untersuchung möchte Christina Rothen dazu beitragen, die heutigen Entwicklungen innerhalb der Schweizer Schulverwaltung und der Schulsystemsteuerung vor dem Hintergrund der historischen Abläufe besser verstehen und kritisch reflektieren zu können. Dazu hat Rothen einen in der Educational Governance-Forschung nicht unüblichen Ansatz gewählt: Sie stellt die Besonderheiten der Entwicklungen einer Periode durch einen Vergleich mit den vorhergegangenen Veränderungen heraus.1 Neu an ihrem Vorgehen ist allerdings die Länge der historisch-vergleichenden Betrachtung über die zeitgeschichtlichen Veränderungen seit Ende des zweiten Weltkriegs hinaus. Als Zäsur dient ihr mit dem Jahr 1832 die Periode der Säkularisation und damit die Ablösung der kirchlichen Schulaufsicht durch den Staat. Damit hat Rothen ein für das Forschungsinteresse der Educational Governance-Forschung sinnvollen Zeitraum definiert, um die Verläufe der Schulsteuerung und ihrer institutionellen Verfasstheit in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Es gelingt ihr besser als querschnittlichen Bestandsaufnahmen oder zeithistorischen Betrachtungen, die heutigen Entwicklungen in der Schulsystemsteuerung zu relativieren und zur kritisch-distanzierten Reflexion anzuregen. Damit bearbeitet Rothen mit dieser Studie ein wichtiges Forschungsdesiderat der (Educational) Governance-Forschung, indem sie die Governance-Perspektive durch die Verknüpfung mit dem Ansatz der longue durée als historisches Konzept verwendet und so nicht nur das „Wie“ der Koordinationsvorgänge, sondern vor allem die Hintergründe, das „Warum“ der Koordinationsvorgänge offenzulegen sucht.2

Ein weiteres Verdienst der Studie von Christina Rothen ist die explizite Ausrichtung auf die Untersuchung des Wandels von Verwaltungsstrukturen. In der Educational Governance-Forschung wird zwar immer wieder gefordert, den Wandel von Strukturen und die interorganisatorische Governance von Schulverwaltung zu untersuchen, allerdings liegen über die Ebene der unteren Schulaufsicht und dem Instrument der Schulinspektion bislang kaum Forschungsarbeiten vor.3 Rothen kommt daher der Verdienst zu, sich mehrebenenperspektivisch den Veränderungen einer speziellen Kantonsverwaltung angenommen zu haben. Auch wenn es sich dabei um eine Darstellung handelt, die lediglich eine spezielle Berner Gemeinde sowie eine Schulform in den Blick nimmt, so können doch aus ihr Erkenntnisse und erkenntnisleitende Fragestellungen für andere kantonale, lokale oder schulformspezifische Entwicklungen gezogen und der Blick auf das eigene Vertraute irritiert und sensibilisiert werden.

Der Nichtschweizer Leserin kann die Dissertation als ein die heutigen Entwicklungen relativierender Spiegel, als Irritation oder auch als Befremdung des Blicks auf die Strukturen und Governance der eigenen Schulverwaltung dienen. Besonders auffällig wird dies an der äußerst aktuell anmutenden pro-contra-Argumentation zu Nutzen und Wirkungen individueller Schulleistungsfeststellungen, der sogenannten „individuellen Taxation“ (S. 96) von Schüler/innen, die im Kanton Bern von 1881 bis 1910 durchgeführt wurden, am im 19. Jahrhundert diskutierten Für und Wider des Aufsichtsinstruments Schulinspektion oder der Diskussion um Vor- und Nachteile einer lebenslangen Anstellung von Lehrer/innen versus ihrer periodischen Wiederwahl durch die Gemeinde.

Dennoch ist den Ausführungen trotz der allgemein gelungenen Anlage der Untersuchung manchmal nur mühsam zu folgen. Dies liegt einmal an der überwiegend makroanalytischen Beschreibung der strukturellen Entwicklungen. Zum anderen fehlen Einordnungen aus verwaltungswissenschaftlicher Perspektive, die die Makroanalyse hätten unterfüttern können. Auf beide Aspekte möchte ich kurz eingehen:

Trotz der systematischen Anlage der Publikation besteht die Beschreibung der kantonalen und lokalen Schulakteure aus einer in weiten Teilen nur lose verbundenen Aneinanderreihung ihrer makrostrukturellen Veränderungen. Nur dort, wo diese kontextualisiert oder durch Mikroanalysen erklärt und interpretiert werden, erschließt sich der Leser/in die Governance-Funktion der jeweiligen Institutionen, die Begründung der Veränderungen über die Zeit und damit der Sinn der historischen Betrachtung aus Perspektive der longue durée für die heutige Zeit. Interpretierende Zusammenfassungen erfolgen zudem erst am Ende eines Kapitels und fallen häufig sehr knapp aus. Bei Themen, die innerhalb des betrachteten Zeitraums vielfältige Parallelen zu aktuellen Governance-Trends aufweisen, fallen die teilweise fehlenden Einordnungen weniger ins Gewicht.

Ferner fällt auf, dass Rothen sich nicht mit der Eigenrationalität des von ihr selbst benannten Forschungsgegenstands „Verwaltung“ auseinandersetzt. Auf Fachbücher der Verwaltungs(rechts)wissenschaft wird nicht zurückgegriffen. Rothen scheint sich damit dem Forschungsgegenstand zwar forschungsmethodisch angemessen, das heißt in der Begründung des Forschungsansatzes und in der Breite und Tiefe der Quellenanalyse, aber nicht mit genügendem Gegenstandswissen angenähert zu haben. Vereinfachungen oder auch Fehlinterpretationen lassen sich daher nicht ausschließen. So fällt die letztendliche Einordnung und Beurteilung der heutigen Entwicklungen im Abschlusskapitel teilweise etwas sehr plakativ und durchgehend negativ aus, vielleicht gerade weil Rothen zu dem Schluss kommt, dass das traditionelle direktdemokratische Schulgovernance-Regime und damit eine demokratische Ordnung, die zum nationalen Kulturgut der Schweiz gehört, verdrängt wird. Als Beispiele können die Beurteilung der Einführung der Schulleitungsebene ab 2006, der Begrenzung der pädagogischen Freiheit oder aber der Zurückdrängung der direkten Demokratie durch repräsentativ-demokratische Elemente genannt werden. Damit wird die Analyse streckenweise der Komplexität gegenwärtiger Schulgovernance nicht gerecht.

Dennoch gelingt es Christina Rothen unabhängig vom nationalen Hintergrund der Studie ihrer Zielsetzung zu entsprechen und den Wert bildungshistorischer Arbeiten für aktuelle schulpolitische Entscheidungen ebenso wie für die Educational Governance-Forschung aufzuzeigen. Vor dem Hintergrund des schon vor mehr als 100 Jahren vorhandenen, aber allzu oft vergessenen Wissens erscheinen aktuelle schulpolitische Innovationen, Forschungsergebnisse oder Schuldebatten weit weniger innovativ und fortschrittlich, als sie es glauben machen. Und hier liegt auch die Stärke der Untersuchung, solche Parallelen aufzuzeigen und der vermeintlichen Singularität der durch Politik, Medien und Wissenschaft hochstilisierten „großen Ereignisse“ ihre Schärfe zu nehmen und das Hintergrundwissen zu liefern, um den internationalen Mega-Trends der Schulgovernance mit Bedacht begegnen zu können.

Anmerkungen:
1 Herbert Altrichter / Martin Heinrich, Kategorien der Governance-Analyse und Transformationen der Systemsteuerung in Österreich, in: Herbert Altrichter / Thomas Brüsemeister / Jochen Wissinger (Hrsg.), Educational Governance. Handlungskoordination und Steuerung im Bildungssystem, Wiesbaden 2007, S. 55–104.
2 Arthur Benz / Susanne Lütz / Uwe Schimank / Georg Simonis, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Handbuch Governance. Theoretische Grundlagen und empirische Anwendungsfelder, Wiesbaden 2007, S. 9–25.
3 Bettina-Maria Gördel, Neue Steuerung im Schulsystem und ihre Konsequenzen für die Organisationsstrukturen und Binnensteuerung der Landesschulverwaltungen. Eine governance-orientierte Organisationsanalyse am Beispiel Hessens, Bad Heilbrunn 2016.

Redaktion
Veröffentlicht am
03.04.2017
Autor(en)
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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