A. De Vincenti: Schule der Gesellschaft

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Titel
Schule der Gesellschaft. Wissensordnungen von Zürcher Unterrichtspraktiken zwischen 1771 und 1834


Autor(en)
De Vincenti, Andrea
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 43,00
URL
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Francisca Loetz, Historisches Seminar, Universität Zürich

„Bildung ist mehr als Wissen“, so wirbt eine freie Schweizer Schule auf einem Plakat für sich. De Vincentis Arbeit bewegt sich im Feld der Bildungsgeschichte und versteht „Wissensordnungen von Zürcher Unterrichtspraktiken“ als Grundlage einer gesellschaftlich ausgehandelten Schule. Mit den Stichworten „Wissen“ und „Ordnung“ verbindet sich in der Geschichtswissenschaft sofort der Name Foucault. Doch nicht Foucaults „Archäologie“ steht methodologisch im Vordergrund, auch nicht die Kontroversen um die Konzeptualisierung von Bildung, sondern die Anwendung des spatial turns für die Schulgeschichte. Worum also geht es?

De Vincenti verfolgt auf der Grundlage der Zürcher Schulumfrage von 1770/71, der helvetischen Stapfer-Enquête von 1799 sowie der Berichterstattung der mittleren Schulaufsichtsbehörden um 1831 die Frage, wie sich „vor Ort tradiertes und rezipiertes Wissen über Schule“ vermischten und damit „curriculare Praktiken“ entwickelten. Diese Praktiken beruhten auf der gegenseitigen Beeinflussung der curricularen Vorstellungen der Schulbehörde und der curricularen Erwartungen und Bedürfnisse der Erziehungsberechtigten und Pfarrer und sind als „Ausdruck soziokulturell codierten sowie staatlich-administrativ und politisch organisierten Wissens über Schule“ Gegenstand der Untersuchung. Curriculare Praktiken werden nicht im Gegensatz von Norm und Praxis betrachtet, sondern als das Ergebnis eines Prozesses untersucht, in dem Wissen von allen Beteiligten aufgeboten, aufgenommen und angepasst wird. Die Entwicklung von Schule wird somit nicht als mehr oder weniger erfolgreiche Durchsetzung von Normen durch die Schulbehörden begriffen, sondern als ein Implementationsprozess, wie ihn die frühneuzeitliche Policeyforschung in den 1990er-Jahren konzeptualisiert hat. Wissen ist also nicht zu verstehen als ein festgeschriebener Bildungskanon, sondern als eine dynamische Verständigung von Schulbehörden, Lehrpersonen und Eltern darüber, was wissenswert und von der Schule zu vermitteln sei. Konkret gesprochen setzt sich De Vincenti mit der Frage auseinander, „in welchen Ausprägungen sich schulische Praxis vor Ort realisierte“ und welche überregionalen curricularen Räume sich dabei nachweisen lassen.

Bereits diese Skizzierung der Fragestellung De Vincentis verdeutlicht die Sorgfalt, mit der konzeptionelle Ausgangspunkte der Arbeit entwickelt werden. Mit vergleichbarer Sorgfalt wertet De Vincenti die Forschungsdiskussion auf empirischer wie auch auf konzeptioneller Ebene aus. Das macht die Lektüre etwas anspruchsvoller als etwa die ebenfalls jüngst erschienene Veröffentlichung Peter Büttners zum Elementarschulunterricht in der Schweiz um 1800,1 doch auch wissenschaftlich anschlussfähiger. Statt den naiven Anspruch zu erheben, Schulwirklichkeit zu rekonstruieren, grenzt sich De Vincenti von der Vorstellung ab, auf vergangene Schulrealitäten zugreifen zu können. Sie will ihr Quellenmaterial stattdessen als eine selektive und interessensgeleitete Berichterstattung von Lehrern, Pfarrern und zuständigen Aufsichtsbehörden lesen. Mit dem Ansatz, Räume als „sich in den curricularen Praktiken ausdrückende, momentan erfasste, jedoch nie gänzlich stabile Wissensordnungen“ zu verstehen, durch welche die Akteure auf Schule Einfluss nehmen wie auch in ihren Vorstellungen von Schule beeinflusst werden, bietet sie ein weiterführendes heuristisches Konzept, das auf künftige Untersuchungen übertragbar sein dürfte.

Die Zürcher Schulumfragen wie auch die Berichterstattung der Schulaufsichtsbehörden, auf denen die Arbeit beruht, stellen ein ungewöhnlich detailreiches und umfassendes Quellenmaterial dar, das De Vincenti in die pädagogischen Kontroversen ihrer Zeit einbettet. Über Fragebögen von rund 50 bzw. 80 Fragen, die sich an die Lehrer oder Pfarrer richteten, versuchten sich die Behörden unter dem Eindruck der Hungerkrise von 1770/71 bzw. der politischen Neuorganisation der Helvetik ein Bild über den Zustand des Schulwesens zu machen. Das gleiche Ziel verfolgten die Berichterstattungen der 1830er-Jahre zur Zeit der liberalen Umwälzungen in der Schweiz. Insgesamt kommen somit mehrere hundert über den gesamten Zürcher Kanton verstreute Schulen in den Blick.

Die standardisierten Fragen der Enquêten ermöglichen eine statistische Aufarbeitung der Angaben, deren Ergebnisse in mehreren Karten veranschaulicht werden. Die qualitativen Auswertungen erfolgen im Text und geben eine detailreiche, empirische Schilderung der Verhältnisse, was stellenweise einem ausführlichen Referieren der Lehrerantworten gleichkommt. In diesen Passagen wäre eine Konzentration auf die interpretatorischen Schlussfolgerungen überzeugender gewesen. Auch die mehrmalige Wiederholung des Konzepts der curricularen Räume stört bisweilen die Lektüre, die sonst von einer gut verständlichen Sprache unterstützt wird.

Die Auswertung der Quellen erlaubt es De Vincenti, bekannte Thesen zu revidieren bzw. zu differenzieren: Der Elementarunterricht, der auf dem Lesen und – in einer späteren Stufe – dem Abschreiben biblischer, moralischer und patriotischer Texte fußte, diente zwar der moralischen und staatsbürgerlichen Erziehung, lief aber nicht auf religiöse Indoktrination hinaus. Vielmehr dienten die weit verbreiteten Texte lediglich zur Übung, ein Schulfach Religion war auch 1834 noch nicht etabliert. Das memorierende Lesen, bei dem Texte auswendig gelernt wurden, ohne das Textverständnis zu überprüfen, so wie die Buchstabiermethode, bei der die Buchstaben einzeln, ohne ihren Lautwert, gelernt wurden, hielten sich trotz der Kritik von Pädagogen und interessierten Eltern, weil es von konservativ ausgerichteten Eltern und Gemeinden eingefordert wurde. Die traditionellen Lehrmittel Zier- und Frakturschrift blieben ungeachtet ihrer Kritik durch reformorientierte Lehrer und Pfarrer lange im Gebrauch. Mädchen und Jungen wurden im Schreiben und Rechnen je nach Region in unterschiedlichem Ausmaß unterrichtet. Hierbei argumentierten sowohl die progressiven wie auch die konservativen Kräfte mit dem, was sie jeweils unter Effizienz und Nützlichkeit des Schulunterrichts verstanden. Bezüglich der Dauer des Schulbesuchs, der Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeit, der Verbreitung von Lehrmitteln oder der Einrichtung von Schulräumen lassen sich jeweils unterschiedliche „curriculare Räume“ feststellen, die tendenziell den spezifischen ökonomischen Strukturen des Zürcher protoindustriellen Ober- und des ackerbaulich-gewerblichen Unterlandes und damit den Vermögensverhältnissen der Eltern und Gemeinden sowie der Nachfrage an Lese-, Schreib- und Rechenkundigen in städtischen Zentren, Markt- und Kirchenorten entsprachen. Die aus den Quellen gewonnenen „curricularen Räume“ widerlegen Modernisierungstheorien, in denen die Schule gegen den Widerstand von Rückwärtsgewandten als Motor des Fortschritts dargestellt wird. Die Gemengelage der Zielvorstellungen von pädagogisch konservativen und reformorientierten Akteuren unter den Vertretern der Schulbehörde, den Lehrpersonen und Eltern belegt vielmehr, dass die Entwicklung der Schule ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess war. Mit diesem Ausblick auf Schulgeschichte, die „immer auch ein Teil einer Geschichte der Gesellschaft“ sei, schließt De Vincenti ihre Untersuchung. Die kritische Distanz zu ihren Quellen, die sie in ihren methodologischen Überlegungen als interessensgeleitete Selbstdarstellung der Schulakteure kennzeichnet, bleibt ohne Folgen für die Verwertung der Quellen, da die Quellen als Dokumentation der Verhältnisse vor Ort gelesen werden. Die Relevanz des Zürcher Fallbeispiels wird kaum ersichtlich, da eine zumindest grobe Einordnung der Zürcher Unterrichtspraktiken in den schweizerischen oder europäischen Kontext unterbleibt. Die einführend diskutierten Begriffe „Wissen“ und „Räume“ verschwimmen im Laufe des empirischen Teils immer mehr mit „Ordnungen“ und „Praktiken“. Da wäre eine präzise konzeptionelle Auswertung der anschaulichen und differenzierten empirischen Erkenntnisse wünschenswert gewesen, um den zunächst banal klingenden Satz von der Schule als Teil der Gesellschaft in seiner konzeptionellen Komplexität zum Zweck weiterer Forschungsdiskussionen auszubuchstabieren.

Anmerkung:
1 Peter O. Büttner, Schreiben lehren um 1800, Hannover 2015.

Redaktion
Veröffentlicht am
13.02.2017
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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