E. Schär u.a.: Kritische und politische Sozialarbeit in der Schweiz

Titel
Spuren einer anderen Sozialen Arbeit. Kritische und politische Sozialarbeit in der Schweiz 1900–2000


Autor(en)
Schär, Eva; Epple, Ruedi
Erschienen
Zürich 2015: Seismo Verlag
Anzahl Seiten
422 S.
Preis
€ 38,00
URL
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Matthias Ruoss, Universität Bern

Der Sozialstaat ist unter Druck. Seit den 1990er-Jahren setzten sich in allen westlichen Industrienationen aktivierungspolitische Paradigmen und Praktiken durch, die von Versicherten und Bedürftigen immer mehr Gegenleistungen verlangen. Mit der 2008 einsetzenden Krise hat sich die Geschwindigkeit, mit der Sozialstaaten umgebaut werden, noch einmal erhöht – auch in der Schweiz. So hat die schweizerische Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren vor kurzem neue Richtlinien verabschiedet, nach denen junge Erwachsene ab Januar 2016 rund 20 Prozent weniger Grundbedarf erhalten.1 Großfamilien sind von Kürzungen ebenfalls betroffen. Gleichzeitig werden die Sanktionsmöglichkeiten erhöht und die Integrationszulagen stärker an zu erbringende Leistungen gekoppelt.

Wie sich diese Verschärfung auf die Arbeit mit bedürftigen und prekarisierten Menschen (und auf diese selbst) auswirken wird, bleibt abzuwarten. Fest steht jedoch, dass auch die Soziale Arbeit, die traditionell eng mit der institutionalisierten Sozialpolitik verbunden ist, von diesen Entwicklungen nicht unberührt bleiben wird: Die Soziale Arbeit wandelt sich, wenn sich die politischen Anforderungen und gesetzlichen Rahmenbedingungen ändern. Allerdings, und dies zeigt das Buch von Ruedi Epple und Eva Schär, verstanden gewisse Sozialarbeitende ihren Beruf immer auch als kritisches Projekt, das sich gegen politische Regime und gesellschaftliche Trends richtet. Zwar spiegeln sich in der Sozialen Arbeit herrschende Normen und Werte, doch war sie stets eine Profession, die um einen „anderen“ sozialen Umgang mit Menschen stritt und diesen reflektierte.

Während die Professionalisierung der Sozialen Arbeit und ihre Disziplinwerdung bereits gut erforscht sind, begeben sich Epple und Schär auf die Suche nach einer solchen „anderen Sozialen Arbeit“ im 20. Jahrhundert – und setzen damit ihre eigene Forschungsarbeit fort.2 Dabei orientieren sie sich an der „grosse[n] Geschichte“ (S. 15), wie sie Michael Reisch und Janice Andrews in „The Road Not Taken: A History of Radical Social Work in the United States“3 2001 vorgelegt haben. Basierend auf einer in der Historiografie etwas aus der Mode geratenen neomarxistischen Regulationstheorie identifizieren die Autoren vier Beispiele für alternative, gegen den „Mainstream“ (S. 14) gerichtete Ideen und Praktiken der Unterstützung in unterschiedlichen wirtschaftlichen Krisen- und politischen Umbruchzeiten.

Die Spurensuche führt Epple und Schär ins frühe 20. Jahrhundert. In einer Zeit, in der die Soziale Frage in der Schweiz an Bedeutung gewann, markierte der Landesstreik von 1918 eine tiefe Zensur: Nicht nur sprach sich das bürgerliche Lager für Sozialreformen aus, auch die traditionelle, am Einzelfall orientierte Armenpflege mit ihren disziplinierenden Praktiken geriet in die Kritik. In dieser sozialpolitischen Umbruchsphase nach dem Ersten Weltkrieg entstanden die ersten Settlements in Arbeiterquartieren Schweizer Großstädte wie Zürich und Basel. Die meist von gut gebildeten Angehörigen aus dem religiös-sozialistischen Milieu geführten Settlements boten Jugend- und Bildungsarbeit an und förderten die Nachbarschaftshilfe, mit der das Selbsthilfepotential der Betroffenen gestärkt werden sollte.

Auch das zweite Beispiel einer anderen Sozialen Arbeit finden die Autoren in der Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit. Während die Settlement-Aktivisten und -Aktivistinnen vor Ort Hilfe zur Selbsthilfe leisteten, richtete sich die „sozialistische Wohlfahrtspflege“ (S. 126) an armutsbetroffene Angehörige des Proletariats. Mit der Gründung des Schweizerischen Arbeiterhilfswerks 1936 reagierten der Schweizerische Gewerkschaftsbund und die Sozialdemokratische Partei der Schweiz auf die Not der Weltwirtschaftskrise. Das Hilfswerk verstand sich selbst nicht nur als Ersatz zu den fehlenden sozialstaatlichen Einrichtungen, sondern bezweckte mit seiner politischen und sogenannt gebundenen Hilfe, die Klassensolidarität der Arbeiterschaft zu stärken und die Gesellschaft zu reformieren.

Das dritte Beispiel betrifft die Schule für Sozialarbeit Solothurn, wo um 1970 das Konzept einer „solidarischen Professionalität“ (S. 206) entwickelt wurde. Weil der Ausbau des Sozialstaats und die Hochkonjunktur der Nachkriegszeit das Phänomen Armut weitgehend in den gesellschaftlichen Hintergrund rückte, gerieten gesundheitliche Probleme von Menschen und Schwierigkeiten der Lebensführung stärker in den Fokus der Sozialen Arbeit. Ausgehend von einem egalitären Menschenrechtsverständnis wurde in Solothurn eine neue Kultur des Helfens gelehrt, die den Eigensinn bedürftiger Menschen akzeptiert und die Autonomie ihrer Lebenspraxis respektiert. Das „Solothurner Experiment“ (S. 184), das nur wenige Jahre dauerte, setzte in der Berufspraxis auf Partizipation und versuchte, die Schüler und Schülerinnen wissenschaftlich angeleitet für das Gegenüber zu sensibilisieren.

Das letzte Beispiel identifizieren die Autoren im Umfeld der Sans-Papiers-Anlaufstellen, die seit 2000 in mehreren Schweizer Städten entstanden sind. Der wirtschaftliche Strukturwandel, der mit den Öl-Krisen der 1970er-Jahre einsetzte, brachte die vergessen geglaubte materielle Armut zurück ins sozialpolitische Gespräch. Unter dem Schlagwort „Neue Armut“ diskutierten Sozialpolitiker und Sozialarbeiterinnen Lösungen zur Verbesserung der Lebenslagen von prekarisierten Bevölkerungsgruppen, zu denen neben Alleinerziehenden und Working Poors auch Papierlose, das sind Migranten und Migrantinnen ohne geregelten Aufenthaltsstatus, gehören. Neben Beratungsdiensten und alltagspraktischen Hilfestellungen versuchten die freiwilligen Aktivisten und Aktivistinnen die Grund- und Bleiberechte der Sans-Papiers politisch einzufordern. Dazu gehörte, dass sie diese zur Mitarbeit heranzogen.

Die genannten Beispiele einer anderen Sozialen Arbeit weisen verschiedene Gemeinsamkeiten auf. Zum einen waren sie alle gesellschaftskritisch und eminent politisch motiviert. Die innerhalb der politischen Linken entstandenen fürsorgepraktischen Ideen und sozialreformerischen Praktiken versuchten sich von der lange Zeit bürgerlich geprägten, stark disziplinierenden staatlichen Armenpflege/Sozialhilfe und anderen philanthropischen Einrichtungen abzuheben. Dementsprechend begriffen die „anderen“ Sozialarbeitenden ihr Tätigkeitsgebiet stets als Feld der gesellschaftspolitischen Erneuerung. Es ging ihnen nicht nur um die Verbesserung von Lebenslagen, ihre Hilfe für bedürftige Menschen war stets von Idealen einer egalitären und gerechteren Gesellschaft beseelt. Zudem weisen Epple und Schär den starken internationalen Einfluss nach. So waren viele der Fürsorger und Sozialarbeiterinnen, die als Repräsentanten einer anderen Sozialen Arbeit vorgestellt werden, zu Ausbildungs- oder Studienzwecken im Ausland und lernten dort Alternativen im Umgang mit Menschen kennen. Auch waren viele ihrer Ideen und Konzepte von sozialen Bewegungen (Settlement-, Arbeiter-, 68er- und die sogenannte „Sans-Papiers-Bewegung“, S. 291) geprägt, die sich international organisierten und transnational austauschten.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten bleibt die Auswahl der vier Beispiele unbegründet. Zwar vermag die regulationstheoretisch angeleitete Spurensuche zu zeigen, dass Ideen und Praktiken einer anderen sozialen Arbeit vor allem in historischen Umbruchphasen entstanden sind, doch bleibt die konkrete Auswahl erklärungsbedürftig. Warum wurde zum Beispiel die gebundene Hilfe der Arbeiterbewegung ausgewählt, nicht aber diejenige des katholischen Milieus, in dem diese Art der Unterstützung auch anzutreffen war, wie die Autoren durchaus erkennen (vgl. S. 155)? Warum beschäftigte man sich mit dem Solothurner Experiment, nicht aber mit der „Heimkampagne“, die in der Einleitung ohne Begründung ausgeschlossen wird (vgl. S. 16)?

Kritisch anzumerken gilt es zudem, dass die strenge Unterscheidung zwischen der anderen Sozialen Arbeit und dem „Mainstream“ den produktiven Dynamiken auf dem Feld der Sozialen Arbeit nur bedingt gerecht wird. Zwar grenzte sich die kritische und politische Soziale Arbeit in ihrem Selbstverständnis stets von traditionellen Fürsorgepraktiken und herrschenden Institutionen ab, doch waren die personellen und kognitiven Austauschbeziehungen und die daraus entstandenen Neuerungen auf beiden Seiten bedeutend größer. Hinzu kommt, dass es durchaus fragwürdig ist, ob es in der Sozialen Arbeit, die lange Zeit nicht professionalisiert und von Freiwilligen und Laien getragen wurde, so etwas wie einen Mainstream überhaupt gab. Noch heute bekundet die Sozialarbeitswissenschaft einige Mühe, sich als Disziplin zu begründen.

Trotz dieser Einwände ist das Buch Historikern und Sozialarbeiterinnen unbedingt zur Lektüre empfohlen. Die biografiehistorische Herangehensweise, mit der die vier Beispiele empirisch angereichert werden, rückt an den Rändern tätige Sozialarbeiter und insbesondere Sozialarbeiterinnen in den Fokus, die in der Geschichte der Sozialen Arbeit wenig bekannt sind. Zudem geben die jedem Fallbeispiel angefügten Quellentexte wichtige Einblicke in die Ideen, Praktiken und Sprachen einer anderen Sozialen Arbeit, die sowohl für historisch Interessierte als auch für Praktikerinnen aufschlussreich sind. Nicht zuletzt stellt das Buch Handlungs- und Orientierungswissen für kritisch denkende und politisch engagierte Sozialarbeitende bereit, was den Autoren angesichts der aktuellen sozialpolitischen Herausforderungen ein großes Anliegen zu sein scheint. So halten sie bereits im Vorwort fest: „The struggle goes on!“ (S. 12)

Anmerkungen:
1 <http://skos.ch/uploads/media/2015_SODK-Medienmitteilung2_d.pdf> (01.10.2015).
2 Bereits in ihrem ersten Buch behandelten sie mit den Gemeinden „andere“ sozialpolitische Wohlfahrtsproduzenten: Ruedi Epple / Eva Schär, Stifter, Städte, Staaten. Zur Geschichte der Armut, Selbsthilfe und Unterstützung in der Schweiz 1200–1900, Zürich 2010.
3 Michael Reisch / Janice Andrews, The Road Not Taken. A History of Radical Social Work in the United States, Philadelphia 2001.

Redaktion
Veröffentlicht am
24.11.2015
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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