S. Janner: Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust

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Titel
Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust. Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im Basel des 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Janner, Sara
Reihe
Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 184
Erschienen
Basel 2012: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
595 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ulrike Sill

Im Zentrum von Sara Janners Studie steht die Beschreibung und Analyse der Funktion, die Religion und Kirchlichkeit für das konservative alte Bürgertum in Basel während des 19. Jahrhunderts hatten. «Kirchlichkeit» prägt die Autorin als Begriff, um eine typische Haltung des konservativen alten Bürgertums zu fassen, in der Religion ein zentrale Rolle spielt, Ortsgemeinde und Ortskirche miteinander identifiziert werden und Religion integraler Teil politischen Lebens ist. Damit verband sich für diese Gruppe auch ein Führungsanspruch. Der Wandel von einem 1803 in Basel wiederhergestellten Staatskirchentum hin zu einer Trennung von Staat und Kirche und damit zu einem Verständnis von Religion als «Privatsache » bildet den Hintergrund für die Darstellung des allmählichen Autoritätsverlustes dieser Gruppe – nicht nur auf religiösem Gebiet – und der zeitweise (noch) erfolgreichen Versuche, den eigenen Machtanspruch aufrechtzuerhalten. Dies wird anhand der Geschichte eines religiösen Vereins, des «Vereins der Freunde Israels», entfaltet. Der Verein wurde 1830 mit dem Ziel gegründet, vor Ort in Basel potentiell konversionswillige Juden auch materiell zu unterstützen und so ihre Hinwendung zum Christentum zu fördern. Diese sogenannte «Proselytenpflege » bildete das erklärte Hauptarbeitsgebiet des Vereins und wurde erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts endgültig aufgegeben. Der Verein verlagerte damals nach einer jahrzehntelangen Krise seine Tätigkeit hin zu einer Missionstätigkeit ausserhalb Basels, seine Statuten wurden 1890 entsprechend revidiert. Dass Judenmission in Basel besonders vom konservativen alten Bürgertum getragen wurde, entspricht einer bestimmten, auch religiös konservativen Sicht auf Geschichte und Zeitereignisse, die damit einhergeht.

Auch wenn die Untersuchung sich explizit auf eine Gruppe innerhalb des Basler Stadtbürgertums konzentriert, die für den «Verein der Freunde Israels» eine tragende Rolle spielte, zeigt sie die vielfältigen Verflechtungen und Abgrenzungen zu anderen Gruppen auf, sowie die Rolle von regionalen, nationalen und internationalen Kontakten und Netzwerken für die verschiedenen Akteure. Sie fokussiert die soziale und politische Dimension und erhellt dabei bisher unterbelichtete Aspekte des politischen, religiösen und gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses in Basel. Dies wird u. a. möglich durch die für die Zeit von dessen Gründung 1830 bis 1889 weitgehend unverändert erhalten gebliebene Archivablage des Vereins. Damit eröffnen sich andere Zugangsmöglichkeiten, als sie die öffentlichen Archive in Basel bieten. Um die Relevanz eines solchen ergänzenden Zugangs zu illustrieren, sei hier nur ein Beispiel angeführt: Anhand des Bildes von Ratsherr Adolf Christ-Sarasin, der für viele das «fromme Basel» verkörpert(e), entwickelt Sara Janner anschaulich, welche Interessen die Überlieferung und damit auch die Archivierung im 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein geleitet haben und wie das «fromme Basel» als historiographisches Konzept entstand. Das inzwischen weitgehend etablierte Bild des «frommen Basels » wird dadurch aufgebrochen und differenziert. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die Untersuchung die Rolle der Brüdersozietät für das pietistische Basel wiederentdeckt.

Zu den 9 Abbildungen des Buches kommen noch 9 Tabellen und 14 Grafiken, u. a. zur Finanzlage und zur Herkunft der Spenden, zur Entwicklung des Tätigkeitsfeldes der sogenannten «Proselytenpflege» oder zur Mitgliedschaft des Vereins der «Freunde Israels», sowie zur Mitgliederentwicklung der Brüdersozietät von 1782 bis 1915. Ein Schönheitsfehler des Buches ist, dass es nur ein Personenregister enthält. Ein Orts- sowie ein Sachregister fehlen – und wären wichtig für die Erschliessung einer Monographie mit einer solchen Fülle an Detailinformationen. Insgesamt aber erfüllt Sara Janner den Anspruch des von ihr gewählten quellen- und personenzentrierten Ansatzes konsequent. Ihre Arbeit bietet vielfältige Einblicke in lokale Netzwerke, die eine beeindruckende Kenntnis der Verflechtung und Verästelungen einflussreicher Basler Familien – und ihrer Kontakte über Basel hinaus – verrät. Sie zeichnet anhand der Geschichte des «Vereins der Freunde Israels» ein facettenreiches und vielstimmiges Bild der sich verändernden politischen, sozialen und religiösen Landschaft Basels im 19. Jahrhundert. Damit ist diese Untersuchung nicht nur für an der Basler Stadtgeschichte oder an der Geschichte des Pietismus und der Erweckungsbewegung Interessierte relevant. Sie gehört zu den nicht gerade zahlreichen Studien zur Geschichte der Judenmission und hebt sich durch ihre politik- und gesellschaftsgeschichtliche Perspektive von den meisten andern Untersuchungen zu diesem Thema ab.

Zitierweise:
Ulrike Sill: Rezension zu: Sara Janner, Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust. Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im Basel des 19. Jahrhunderts, Basel: Schwabe Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 3, 2014, S. 510-511.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 3, 2014, S. 510-511.

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