N. Kühnis: Anarchisten!

Cover
Titel
Anarchisten!. Von Vorläufern und Erleuchteten, von Ungeziefer und Läusen – zur kollektiven Identität einer radikalen Gemeinschaft in der Schweiz, 1885–1914


Autor(en)
Kühnis, Nino
Reihe
Histoire 76
Erschienen
Bielefeld 2015: Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis
Anzahl Seiten
568 S.
Preis
42,99 €
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hartmut Rübner, Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen

Als Objekte klischeehafter Projektionen erscheinen Anarchist/innen in der Geschichte entweder als Terrorist/innen oder als gesinnungsethische Freiheitssuchende: „Teufelszeug respektive als erlösende Kraft“, so markiert Nino Kühnis die Gegenpole (S. 11). Inwieweit solche Stereotypisierungen zutreffen, ist für den Autor der vorliegenden Studie eher nebensächlich, denn ihn interessiert viel mehr die Genese kollektiver Identität. In ihrer Gegensätzlichkeit hätten sich die Chiffren der Eigen- und Fremdwahrnehmungen doch stets aufeinander bezogen und somit einen Synkretismus überformt.

Der Anarchismus ist nach Kühnis jenen Sozialen Bewegungen des 19. Jahrhunderts zuzuordnen, die eine symptomorientierte Reformpolitik für die Lösung der akuten Sozialen Frage ablehnten und sich einer systemintegrativen Partizipation in einen Staat konsequent verweigerten, zumal dieser in seiner oft repressiven Anordnung gegen die organisierten Arbeiter/innen als institutionalisierte Herrschaftsform auftrat (S. 12). Da die anarchistische „Normbewegung“ ihre Ziele teilweise mit Gewaltakten zu erreichen suchte, gerieten die Protagonist/innen deshalb ohne Unterschied ins Visier zunehmend transnational operierender politischen Polizeien.1 In dieser Verfolgungssituation bot die vergleichsweise liberale Schweiz politisches Asyl für Exilant/innen aus den europäischen Ländern. In Anbetracht einer relativ überschaubaren Anzahl von Akteur/innen und eines durchaus pluralistischen Spektrums von „Subströmungen“, brachte das anarchistische Exil eine immense Presseproduktion hervor. Die publizistischen Anstrengungen verfolgten eine doppelte Absicht, indem sie die Anbindung der arrivierten Aktiven gewährleisten und der Zuführung neuer Interessenten dienen sollten. Über die Nachrichtenübermittlungen hinaus wurde inhaltlich auf „die Ideologie der freien föderalistischen Assoziation von Interessengruppen“ rekurriert und diese „gegen zentralistische, hierarchische Herrschaft in allen ihren Formen“ propagiert (S. 13). Die Bewegungsorgane boten somit „Identifikations- und Projektionsflächen […] zur stetigen Konstitution und Rekonstitution ihrer kollektiven Identität“, indem sie „eine an Aktualitäten und vermittelten Traditionen angebundene anarchistische Lebensnarration“ ermöglichten, um sich „als Teil einer Sozialen Bewegung zu imaginieren“ (S. 14). Das „Anarchist/innen-Sein“ in der Schweiz des Fin de Siècle beschreibt Kühnis als ein „changierendes, verwobenes Netz aus Abstrakta wie Werten und Idealen, Zielvorstellungen, Methoden, kollektiven Emotionen und Traditionen“, welches „für weitreichende Repressalien von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sorgte, die ihrerseits in Rückkopplung wiederum in die Konstruktion und Gestaltung der kollektiven Identität der Bewegung eingewoben wurden“ (S. 15). Kühnis sieht im Konzept der kollektiven Identität den forschungspraktischen Vorteil, dass es keine hierarchische Unterscheidung zwischen „Realia“ und „Abstrakta“ vornimmt. Anders als die Soziale Bewegungsforschung, die viel mehr auf formale Kriterien abstellt, erscheine ein diskursanalytischer Ansatz angemessener für die Untersuchung einer anarchistischen Bewegung, die sich in der Regel nicht als groß angelegte Organisation mitsamt eines freigestellten Funktionärsapparats manifestierte. Abgesehen von einer kleinen Anzahl von Bewegungsunternehmern, dürften materielle Motive für das Engagement kaum ausschlaggebend gewesen sein.

Kollektive Identität, so die zentrale These der Studie, stellt eine wesentliche Grundlage für die Kohärenz anarchistischer Gemeinschaften dar. Mit dem diskursanalytischen Methodenansatz taxiert Kühnis die Wirkungsmächtigkeit dieser bedingten Konstellation im Zeitraum von 1885 bis 1914, ohne dabei Prämissen auf inhaltliche Kongruenzen oder Organisationsformen zu setzen. Dabei geht es weniger um organisatorische Kontexte, als um den „transitorischen Charakter“ von gemeinschaftsbildenden Kategorien im Rahmen eines spezifischen Repertoires von kulturellen Symbolisierungen und sozialen Praktiken. Die inhaltsanalytische Heuristik der anarchistischen Presse soll die „Identitätskonstitutionskomponenten“ des bewegungsspezifischen „Wir“ freilegen, aber auch deren „weit wirkungsmächtigere Kraft und Reichweite in Bezug auf das gesamtgesellschaftliche Verständnis“ hinterfragen (S. 23f.). Als primäre Quellenbasis dienen 24 in der Schweiz meist temporär erschienene Periodika (davon zehn deutsch- und 14 französischsprachige), die mit einem stichprobenweise ausgewerteten Fundus von sieben Presseerzeugnissen bürgerlich-liberaler, sozialdemokratischer und politisch unabhängiger Provenienz kontrastiert werden. Berücksichtigt man die zeitgleiche anarchistische Presseproduktion in italienischer Sprache, die mindestens 18 Titel umfasst, korrespondiert die hohe Publikationsdichte keineswegs mit den Gruppenstärken. 1910 bezifferte die Schweizer Polizei die seit 1902 kartographisch registrierten Mitglieder auf 150 Personen in 25 Städten. Milieuinterne Schätzungen reichten demgegenüber bis zu 5000 Akteur/innen, eine sicher übertriebene Größenordnung (S. 131). Das diskrepante Verhältnis von Substanz und Reichweite verweist einerseits auf eine hohe Mitgliederfluktuation der Zeitungsgruppen und andererseits auf eine hauptsächlich auf den Export abstellende Zeitungsproduktion, die Länder mit rigoroseren Zensurbedingungen wie Frankreich, Österreich und Deutschland versorgte.

Nachdem in den ersten Kapiteln die Fragestellungen, Methoden und das paradigmatische Konzept der sozialen Identität erläutert worden sind, folgt eine Darstellung der allgemeinen Begriffs-, Ideen- und Organisationsgeschichte des Anarchismus. Dieser Abschnitt ist kursorisch gehalten und stützt sich hauptsächlich auf die ältere Literatur, wobei der Blick auf die Schweiz fokussiert bleibt. In den beiden auf bibliographischen Autopsien basierenden Haupteilen der Arbeit (Kapitel 4 und 5) versucht der Autor die maßgeblichen Komponenten für eine kollektive anarchistische Identität zu rekonstruieren: „Hypergüter“ in Form von Zielen, Vorstellungen und Strategien sowie „Framing-Prozesse“, das heißt die Verhaltensweisen von Abgrenzungen der Gemeinschaft gegen außen und – als „subidentitäre Framing-Prozesse“ – auch nach innen im Kontext von „Selbstwahrnehmungen, -verortungen und -darstellungen“ (S. 191). Im Prozess anarchistischer Identitätsbildung sind sogar „Faktionalisierungen und Friktionen ein prägender Faktor“. In Anbetracht eines zuweilen konfliktbeladenen „Identitätspluralismus“ kann Identität als Kategorie deshalb kaum in der Singularform fungieren (S. 288). Bezüglich der Methoden, Etappenziele und dem Bewegungssubstrat potenzieller Zielgruppen fallen die Differenzierungen in den deutschsprachigen Periodika offenbar weniger ins Gewicht (S. 286). Bei den französischsprachigen Publikationen sind strömungsspezifische Unterschiede deutlicher erkennbar (S. 451), so z.B. hinsichtlich der Anwendung von Sprengstoffen zur „Propaganda der Tat“, die in bis zu 30 Prozent der Titel als akzeptables Mittel gelten (S. 453). In der deutschsprachigen Anarchistenpresse ist dagegen ein „klassenspezifisches Bewegungssubstrat“ stärker ausgeprägt, das dementsprechend auf syndikalistische „Direkte Aktionen“ wie Boycotts oder Streiks abstellt.

Vier ereignisgeschichtliche Momente bilden die Matrix für die Ermittlung der Spannbreite der Fremdwahrnehmung der Anarchist/innen in der nicht-anarchistischen Presse: die geplante Bundeshaussprengung (1885), das Attentat auf Kaiserin Elisabeth „Sissi“ (1898), die „Silvestrelli-Affäre“ (1902) und der gewaltsame Befreiungsversuch des Anarchisten Kilaschnitzky (1907/1912). Obwohl die Einstellung in Bezug auf Attentate innerhalb des anarchistischen Lagers ambivalent, mehrheitlich ablehnend ausfiel, blieb die Fremdwahrnehmung durch eine Etikettierungsperspektive bestimmt. Dabei wird die anarchistische Gemeinschaft durchweg als homogenisierte, „phantomhafte Bande wahnsinniger, selbstzentrierter und weitestgehend moral- und inhaltsfreier Parias“ verstanden, „die womöglich von diffusen Figuren im Hintergrund orchestriert wurden“ (S. 533). Das Konstrukt eines anarchistischen Schreckgespenstes wurde durch eine (pseudo-)wissenschaftliche Forschung ventiliert, die den Delinquent/innen generell eine psychopathologische Anomie attestierte (S. 105 u. 530). Während die bürgerliche Presse die Sozialdemokratie für den Terror in Mitverantwortung nahm und insofern zur Lancierung von Kampagnen gegen die gesamte sozialistische Bewegung nutzte, reagierten die linken Parteiorgane, indem sie die Anarchist/innen entweder als dysfunktionales „bourgeoises Produkt“ (S. 532) aus der Arbeiterbewegung ausschlossen oder die Akteur/innen als unpatriotisch auswiesen.2 Angesichts solcher Instrumentalisierungen kommt Kühnis nicht umhin, dem terroristischen Aspekt des historischen Anarchismus eine nachhaltige wirkungsgeschichtliche Bedeutung einzuräumen. Er plädiert indessen dafür, die Gewaltfrage im Anarchismus separat vom Terrorismus-Kontext zu behandeln, zumal die libertäre „Dogmenfreiheit“ diametrale Einstellungsweisen erlaubte, in der selbst initiale Gewalt stets als Notwehrakt stilisiert oder auch aus pazifistischen Motiven grundsätzlich verworfen werden konnte.

Die Bilanz reflektiert die insgesamt binäre Perspektive: Zum einen das aufgrund der „changierenden Mehrzahl von Konstitutionskomponenten“ ermöglichte „Mosaik kollektiver Identitäten“, die den Anarchismus als „vitale Soziale Bewegung von Bewegungen zeigt“; zum anderen die Verknüpfung des Phänomens mit „Negativa aller Art“, mit diffamierenden Konnotationen, welche die Anarchist/innen quasi aus der menschlichen Gemeinschaft exkludierten und die Behörden zu einem rigoroseren Vorgehen animierten (S. 536). Das diskrepante Verhältnis von Eigen- und Fremdwahrnehmungen war indes nicht starr fixiert, da sich die Einstellungsmuster gegenseitigen durchdrangen, was zur Affirmation der oktroyierten Zuschreibungen führen und unter Umständen die soziale Kohäsion befördern konnte. Nicht zuletzt verstanden sich jedoch viele Protagonisten wie Peter Kropotkin, Max Nettlau oder Rudolf Rocker als Sozialisten, als Vermittler eines in der Tradition des aufklärerischen Liberalismus stehenden antiautoritären und freiheitlichen Sozialismus. Diese (Sub-)Identität spielte in den Auseinandersetzungen zwischen Anarchist/innen und Sozialdemokrat/innen in der Schweiz – wie auch anderswo – eine elementare Rolle. Insofern ist dem Befund zuzustimmen, „dass ein Verständnis einer totalen Verschiedenheit der beiden eine Täuschung ist“ (S. 538). Wenn der Autor in seinem Schlußwort die Fruchtbarkeit seines methodischen Vorgehens herausstellt, so trifft diese Einschätzung allerdings nur bedingt zu, zumal die empirischen Limitationen der Diskursanalyse kaum Aussagen über die soziale Basis, Organisationsstrukturen, Praxisformen und politische Implikationen ermöglichen. Letztlich verspricht der ambitionierte Methodenansatz dann doch mehr, als die nach Begriffsdefinitionen schematisch vorgenommene Zeitungsautopsie an Erkenntnissen erbringt. Ein weiteres Manko ist die Vernachlässigung der kaum zu unterschätzenden internationalen Facette anarchistischer Identität, zumal die Bewegung eine kosmopolitische Dimension besaß und transnational vernetzt war.3 Diese Einwände können den instruktiven Stellenwert der aufgrund des Unfalltods des Verfassers posthum erschienenen Dissertation insgesamt nicht herabsetzen. Kühnis hat die fundamentale Bedeutung kollektiver Identität für die intergenerationellen Verschränkungen einer Sozialen Bewegung aufgezeigt und damit Anhaltspunkte für Forschungen auch auf anderen Gebieten vorgelegt. Eine Anmerkung noch zu den vom Verlag erhobenen Copyrights auf die in denkbar schlechter Qualität reproduzierten Faksimiles: Im Hinblick auf die tatsächliche Urheberschaft der Autoren und der teilweise noch enthaltenen Stempelaufdrucke der Archiv- und Bibliotheksstandorte wirken solche übergriffigen Ansprüche bestenfalls kurios.

Anmerkungen:
1 Dazu explizit: Richard Bach Jensen, The Battle against Anarchist Terrorism. An International History, 1878–1934, Cambridge 2014.
2 Zum Beispiel der deutschen Sozialdemokratie vgl. Elun T. Gabriel, Assassins and Conspirators. Anarchism, Socialism, and Political Culture in Imperial Germany, DeKalb, IL 2014.
3 Darauf verweisen aktuell: Constance Bantman / Bert Altena (Hrsg.), Reassessing the Transnational Turn. Scales of Analysis in Anarchist and Syndicalist Studies, London 2015.

Redaktion
Veröffentlicht am
05.01.2016
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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