S. Lienert: Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder

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Titel
Wir wollen helfen, da wo Not ist. Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder 1933–1947


Autor(en)
Salome, Salome
Erschienen
Zürich 2013: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
380 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Helena Kanyar Becker

Die Problematik des Schweizer Hilfswerks für Emigrantenkinder (SHEK) wurde mehrmals partiell verarbeitet, die Autorin legt die erste eingehende Gesamtdarstellung vor. Sie dokumentiert in ihrer Dissertation die Entwicklungsgeschichte dieser humanitären Organisation, analysiert ihre soziologischen Strukturen und positioniert sie unter schweizerischen und internationalen Flüchtlingswerken. Lienert polemisiert gegen die Bezeichnung des SHEK als eines reinen Frauenhilfswerks, waren doch zwanzig Prozent der Mitarbeitenden Männer: Pfarrer, Politiker, Geschäftsleute, Intellektuelle. Die Frauen waren engagierte Berufs- und Bürgerfrauen oder Akademikerinnen.

Die Gründerinnen des SHEK charakterisierten sich selbst als mütterliche Frauen, die den Flüchtlingskindern helfen wollten. Dabei betonten sie stets ihr legales Ansinnen und Handeln. Die Selbstdefinition als ein neutrales Hilfswerk und der Respekt vor den gesetzlichen Vorschriften waren die besten Voraussetzungen für meist problemlose Zusammenarbeit mit den Behörden.

Anfang Oktober 1933 entstand in Zürich das Comité d’aide aux enfants d’émigrés allemands, Schweizer Sektion, das ein Kinderheim in Paris finanziell unterstützte, Patenschaften für Kinder organisierte und Kleider, Spielzeug und Bücher sammelte. Das Comité verselbständigte sich im Frühjahr 1934 und trug ab Januar 1935 den Namen Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder. Bereits im Mai 1934 initiierte die Lehrerin und Frauenrechtlerin Georgine Gerhard die Entstehung des Basler Hilfswerks für Emigrantenkinder, die weiteren Sektionen wurden in der Deutschschweiz und im Tessin bis etwa Ende 1935 gegründet, in der Romandie entstanden sie später. Die lokalen Sektionen arbeiteten autonom, der föderalistische Verband wurde von der Zürcher Zentralstelle sowie der Delegiertenversammlung koordiniert. Die Autorin widmet selbständige Porträts der jahrelangen Präsidentin Ellen Seeburger-Vogel, der Generalsekretärin und Historikerin Nettie Sutro und dem Kassier und Unternehmer Georges Bloch, der als wichtiges Bindeglied zu den jüdischen Organisationen agierte. Sie porträtiert auch die Baslerin Georgine Gerhard sowie Dora Rittmeyer-Iselin, die in Sankt Gallen wirkte und Bertha Hohermuth, die eine internationale Karriere anstrebte.

Salome Lienert verfolgt die chronologische Geschichte des SHEK und sein Engagement für deutsche und österreichische Emigrantenkinder, die unter erbärmlichen Bedingungen in Frankreich lebten. Das SHEK brachte diese Kinder zur Erholung in die Schweiz. Die erfahrene Organisatorin der sogenannten Kinderzüge, Mathilde Paravicini, organisierte für das SHEK die Zugtransporte, die Sozialdemokratin Regina Kägi-Fuchsmann half anfänglich, die Ferienplätze in Pflegefamilien und Heimen zu sichern. Die unterernährten Kinder wurden 6 bis 12 Wochen «durchgefüttert», 75 Prozent davon bei Pflegeeltern, die sie oft mehrmals einluden und mit Paketen und Geld unterstützten. Die meisten von den fast 5000 Ferienkindern, die sich 1933–1939 in der Schweiz erholen konnten, waren jüdisch, nur etwa zehn Prozent davon russische Emigrantenkinder. Das SHEK unterstützte während dieser Jahre auch Emigrantenkinder in Prag.

Für den grössten Erfolg, die 300-Kinder-Aktion, zeichnete die Leiterin des Basler SHEK verantwortlich. Georgine Gerhard gelang es nach der «Reichskristallnacht» vom 9.–10. November 1938, eine Einreisebewilligung für 300 jüdische Waisenkinder aus Frankfurt am Main und aus den Grenzgebieten zu ergattern. Der Chef der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, erlaubte eine Ausnahme für die «unschuldigen Opfer», obwohl die Schweizer Grenzen für jüdische Flüchtlinge gesperrt waren. Salome Lienert knüpfte an ihre unveröffentlichte Lizentiatsarbeit «Jüdische Flüchtlingskinder in der Waldeck in Langenbruck, BL, 1939–1945» (Genf, 2003) an und widmete diesem exemplarischen Fall ein Kapitel.

Nach Gründung der Dachorganisation Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für geschädigte Kinder (SAK) im Januar 1940 übernahm das SHEK die Verantwortung für die ca. 5000 legal oder illegal eingereisten, meist jüdischen Kinder in der Schweiz. Wie die Autorin schreibt, spielte das relativ kleine Hilfswerk eine zentrale Rolle in der Flüchtlingshilfe. Dank seiner Vernetzung mit anderen Flüchtlingsverbänden und mit dem Schweizerischen Roten Kreuz, Kinderhilfe (SRK, Kh, seit 1942), vor allem dank seiner proklamierten Neutralität, übertrug ihm der Bundesrat am 1. Dezember 1942 die Verantwortung für die alleinstehenden Flüchtlingskinder bis zu 16 Jahren. Ausserdem war die Aufgabe des SHEK die sogenannte Lagerbefreiung der Schulkinder aus den Auffanglagern. Sie wurden in Schweizer Pflegefamilien oder Heimen untergebracht, meist gegen den Willen ihrer Eltern. Im Glücksfall durften sie bei ihren Verwandten oder Bekannten leben. Diese zum Teil tragische Praxis wurde heftig kritisiert. Die Konflikte, unter anderem mit einem Teil der jüdischen Organisationen, spitzten sich zu.

Das SHEK versuchte, für die Jugendlichen eine solide Ausbildung und Berufslehre zu sichern, um sie für die Weiterwanderung auszurüsten. Weil sich die Schweiz als ein Transitland verstand, sorgte das SHEK auch für die Auswanderung. Bei seiner Auflösung Ende 1947 befanden sich noch 601 Schützlinge in seiner Obhut, für die eine Lösung gesucht wurde. Die Mitarbeitenden des SHEK engagierten sich weiterhin in der Kinderhilfe und gründeten 1951 in der Nähe von Jerusalem das überkonfessionelle Kinderdorf Kirjath Jearim für die Benachteiligten in Palästina.

Salome Lienert wertet in ihrem Werk sorgfältig zahlreiche Quellen und Literatur sowie Gespräche mit Zeitzeugen aus. Sie füllt eine bisherige Lücke in der Erforschung der Kinderhilfe.

Zitierweise:
Helena Kanyar Becker: Rezension zu: Salome Lienert, «Wir wollen helfen, da wo Not ist». Das Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder 1933–1947, Zürich: Chronos Verlag, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 349-350.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 2, 2014, S. 349-350.

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