J. Karski: Mein Bericht an die Welt

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Titel
Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund


Autor(en)
Karski, Jan
Herausgeber
Gervais-Francelle, Céline
Erschienen
München 2011: Antje Kunstmann
Anzahl Seiten
620 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Heiko Haumann, Departement Geschichte, Universität Basel

Die Schweiz gehörte zu den wenigen europäischen Ländern, die Jan Karski (1914–2000) während des Zweiten Weltkrieges nicht durchquerte, um als Kurier der polnischen Untergrundbewegung in Frankreich, England oder den USA seine Aufträge zu erledigen. Dabei kannte er sie schon: 1936 hatte er einen achtmonatigen Studienaufenthalt bei der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) in Genf angetreten, um Material für seine Diplomarbeit und spätere Dissertation zur vergleichenden Demographie zu sammeln. Damals hiess er noch Jan Kozielewski, 1914 in Lodz geboren. Erst 1942 nahm er, nach mehreren anderen, den Decknamen Karski an, den er dann beibehielt. Zu dieser Zeit befand er sich bereits im Untergrund. Die aussichtsreiche Karriere eines Diplomaten war 1939 durch den deutschen Überfall auf Polen abgebrochen worden. Als Offizier geriet Karski in sowjetische, dann deutsche Gefangenschaft, konnte fliehen und wurde von der polnischen militärischen Widerstandsbewegung angeworben, aus der die Armia Krajowa, die Heimatarmee, hervorging. Nach kleineren Aufträgen wurde er 1940 nach Lemberg (Lwów) und weiter nach Frankreich geschickt, um dort über die Verhältnisse in Warschau und über den Stand der Untergrundarbeit zu berichten. In Frankreich empfing ihn die polnische Exilregierung, und er wurde mit wichtigen Richtlinien und Instruktionen nach Polen zurückgeschickt.

Dort entfaltete sich nun ein regelrechter Untergrundstaat. Neben dem militärischen Zweig gab es eine Koalition der grössten Parteien sowie Delegierte der Exilregierung, die faktisch die Exekutive bildeten und eine Verwaltungsorganisation aufbauten. Ebenso wie der militärische Oberbefehlshaber waren die Delegierten den Vertretern der Parteien verantwortlich. Selbst ein Bildungswesen wurde organisiert. Dass eine solche Struktur unter den Bedingungen der deutschen Besatzung gelang, muss als eine aussergewöhnliche Leistung bewertet werden. Dazu bedurfte es allerdings vielfältiger Sicherungsmassnahmen: Alle Mitglieder des Untergrundes mussten nach strengen konspirativen Regeln leben, damit die Gestapo so wenig wie möglich Gelegenheiten für Verhaftungen erhielt. Zugleich wurden sie überwacht, und wem Verrat nachgewiesen werden konnte, musste mit seiner Erschiessung rechnen. Trotzdem gelangen der Gestapo immer wieder Erfolge im Kampf gegen den Untergrundstaat. Im Kampf gegen die Besatzung, einem «Schattenkrieg» (S. 363), wurde versucht, auf vielen Ebenen Boykott, Chaos und Verwirrung zu stiften, um die deutsche Herrschaft zu destabilisieren. Dazu gehörte auch, Polen, die dieser Linie nicht folgten, sozial zu ächten, und aktive Kollaborateure zum Tode zu verurteilen. Ein Denkmal setzt Karski in seinem Buch den zahlreichen Verbindungsagentinnen, ohne die die Untergrundtätigkeit nicht funktioniert hätte. Ein grosser Teil von ihnen wurde gefasst, gefoltert und ermordet.

Als Jan Karski 1940 erneut als Kurier nach Frankreich geschickt wurde, um die Exilregierung über die Lage in Polen zu informieren, geriet er in eine Falle der Gestapo, wurde festgenommen und fürchterlich gefoltert. In einer abenteuerlichen Aktion befreite ihn die Untergrundorganisation aus dem Krankenhaus, in das er nach einem Selbstmordversuch verlegt worden war. Erst 1986 erfuhr Karski, dass die meisten seiner Befreier von den Deutschen ermordet oder in ein KZ eingeliefert worden waren; zusätzlich hatten diese als Vergeltung 32 Einwohner der Stadt erschossen. Karski wurde nach seiner Genesung in der Propaganda-Arbeit eingesetzt.

1942 sollte er dann erneut als Kurier die Exilregierung aufsuchen, die nun in London residierte. Neben den Berichten über die Zustände in Polen und die Aktivitäten der Widerstandsbewegung kam ihm diesmal eine besondere Aufgabe zu: Er sollte über das Schicksal der Juden aufklären (damit wirft das Buch auch Licht auf die Haltung der Untergrundorganisation gegenüber der jüdischen Bevölkerung). Karski war in Lodz in einem Milieu aufgewachsen, in dem es ein gutes Verhältnis zu Juden gab. Vor allem ein Vertreter des jüdischen Arbeiter-Bundes, Leon Feiner, ermöglichte es ihm jetzt, sich an Ort und Stelle über das Ghetto von Warschau zu informieren, und schmuggelte ihn in ukrainischer Uniform in das Vernichtungslager von Izbica Lubelska zwischen Lublin und Bełżec. Was er dort sah, konnte er nur als «Grauen» beschreiben (S. 482). Neben Feiner unterrichtete ein führendes Mitglied der zionistischen Organisation, dessen Identität bislang nicht festgestellt werden konnte, Karski detailliert über die NS-Massnahmen. Beide beschworen ihn, die Westmächte aufzurütteln und zur Rettung der noch lebenden Juden aufzufordern. Zu diesem Zweck sollte er auch den jüdischen Vertretern im polnischen Nationalrat der Exilregierung alles, was er erlebt hatte, genau mitteilen. Karski sprach dann in London lange mit Szmuel Zygielbojm, dem dortigen Bund-Vertreter. Dieser nahm die ihm übermittelte Aufgabe so ernst, dass er, nachdem seine Bemühungen bei den britischen und amerikanischen Stellen erfolglos geblieben waren, 1943 den Freitod wählte, um auf diese Weise die Welt zum Handeln zu bewegen. Doch auch dies blieb vergeblich.

Karski war über Berlin (!), Brüssel, Paris und Madrid nach London gekommen. Er setzte die polnische Exilregierung, die britische Regierung und Repräsentanten anderer Regierungen über die Lage in Polen in Kenntnis. 1943 hatte er dann auch Gelegenheit, seine Berichte der US-Regierung – darunter Präsident Roosevelt persönlich – zu unterbreiten. Es waren die genauesten Informationen über die Arbeit des polnischen Untergrundes, über die deutsche Besatzung und nicht zuletzt über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung, die zu dieser Zeit die Westmächte erreichten. So eindringlich Karski auch sprach und so aufmerksam man ihm zuhörte – zur Rettung der Juden geschah nichts.

Mit seinem Buch «Story of a Secret State», und ebenso mit Vorträgen und Radiosendungen, wandte sich Karski 1944 an die Weltöffentlichkeit. Damit legte er auch Zeugnis darüber ab, dass die führenden westlichen Politiker – entgegen ihren Behauptungen – sehr früh von der Judenvernichtung erfahren und nichts dagegen unternommen hatten. Aufgrund der politischen Entwicklung im Nachkriegspolen kehrte Karski nicht dorthin zurück. Seit 1952 lehrte er Politikwissenschaft an der Georgetown University, 1954 erlangte er die amerikanische Staatsbürgerschaft. Im selben Jahr lernte er Pola Nirenska kennen, eine polnische Jüdin, die zum Katholizismus konvertiert war; sie heirateten 1965. Seit Ende der 1970er Jahre ging er dann wieder an die Öffentlichkeit – etwa in Claude Lanzmanns Film «Schoah» – und beteiligte sich an der historischen Aufarbeitung der Judenvernichtung. In einem Vortrag führte er 1981 aus, dass er, ein praktizierender Katholik, selbst «Jude geworden» sei, als er habe feststellen müssen, dass der Westen taub gegenüber den Hilferufen der Juden gewesen sei. Diese Haltung bezeichnete er als «Sündenfall», der «die Menschheit bis ans Ende der Welt verfolgen» werde (S. 8).

Ende 1999 erschien Karskis Buch in Polen. Auf der Grundlage des englischen Originaltextes und einer französischen Neuausgabe ist nun die deutsche Ausgabe veröffentlicht worden. Neben einer informativen Einleitung der Herausgeberin enthält sie ausführliche Anmerkungen. Diese sind notwendig, weil Karski 1944 viele Geschehnisse nur andeuten und die Namen der Untergrundkämpfer verschlüsseln musste, um sie nicht zu gefährden. Auf diese Weise ist das bewegende Buch zu einer erstrangigen historischen Quelle über die polnische Untergrundorganisation geworden – und zugleich über das Versagen der führenden westlichen Politiker bei den Bemühungen, die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung zu verhindern.

Zitierweise:
Heiko Haumann und Elzach-Yach: Rezension zu: Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund. Hg. von Céline Gervais-Francelle. Übers. von Franka Reinhart und Ursel Schäfer. München, Verlag Antje Kunstmann, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 189-191.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 189-191.

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