D. R. Coen: The Earthquake Observers

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Titel
The Earthquake Observers. Disaster Science from Lisbon to Richter


Autor(en)
Coen, Deborah R.
Erschienen
Chicago 2013: University of Chicago Press
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Remo Grolimund, Schweizerischer Erdbebendienst Historische Seismologie, ETH Zürich

«Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.»1 Max Frischs Romanfigur Herr Geiser nimmt eine der zentralen Erkenntnisse der neueren Umweltgeschichte vorweg: Naturkatastrophen als solche existieren nicht, die katastrophalen Konsequenzen sind immer das Ergebnis eines unglücklichen Zusammentreffens (geo)physischer Umstände und menschlicher Entscheidungen. Naturgefahren sind eine «Schnittstelle von Natur und Gesellschaft». Deborah Coen zeigt am Beispiel der Erdbebenforschung, wie dieser Schnittstellencharakter bei der Konstituierung der Seismologie im 19. Jh. unter einem physikalische mit sozialen und psychologischen Aspekten verknüpfenden, universalistischen Wissenschaftsideal zunächst zum zentralen Forschungsobjekt wurde und in der weiteren Entwicklung der Seismologie hin zu einer «exakten» Wissenschaft wieder aus der Disziplin verdrängt wurde. Die Seismologie wandelte sich zu einer instrumentengestützten «observatory science» (S. 163), wobei die konkret lebensweltliche Komponente zurücktrat.

«The world became shakier in the nineteenth century» (S. 1), nicht nur, weil dank intensivierter Forschung mehr Erdstösse registriert wurden, sondern auch, weil politische und gesellschaftliche Umwälzungen Wert- und Glaubenssysteme erschütterten. Hierfür bot sich das Erdbeben damals wie heute als eingängige Metapher an. So erschliesst Coen das Erdbebenphänomen nicht allein in seiner Eigenschaft als Forschungsgegenstand, sondern zugleich als gesellschaftlicher Diskurs und Parabel für den kulturellen Wandel in einem Zeitalter der Aufklärung, der Revolutionen und der Katastrophe(n). Das Erdbeben wird dabei auch zu einer Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Coen gliedert dieses vielschichtige Diskursgeflecht in zehn Kapitel, die sich dem Thema zur Hälfte aus einer globalen Perspektive nähern und u. a Beobachtungsmethoden, wissenschaftliche Internationalisierung, Psychologie und Medialisierung des Phänomens diskutieren. Die andere Hälfte besteht aus lokalen Fallstudien mit einem besonderen Fokus auf Praktiken der «citizen science»2 in einer Zeit vor der wissenschaftlichen Spezialisierung. Mangels zuverlässiger Instrumente stützen sich die frühen Seismologen auf die Beobachtungen gewöhnlicher Bürger – am «human Seismograph» (S. 7) offenbart sich die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit in einem geradezu experimentellen Setting. Es ist dies eine Praxis, die verloren ging, als der menschliche Seismograph vom instrumentellen und die beobachtbare Erdbebenintensität von der messbaren Richter-Magnitude in den Hintergrund gedrängt wurden. Die Fallstudien zu den Erdbebenschwärmen von Comrie (UK), zur Seismologie in der Habsburgermonarchie und Kalifornien sowie zur Schweizerischen Erdbebenkommission zeigen, dass sich die Spannbreite der Erdbebenforschung – von der lokalen Feldstudie zur Messung der globalen Wellenausbreitung zur Erkundung des Erdkerns – auch in regionalen und nationalen Ausprägungen manifestiert. Zwischen 1878 und 1880 entstanden in der Schweiz, Italien und Japan erste Erdbebenbehörden «but only the Swiss made ordinary citizens a vital part of this undertaking» (S. 69). Coen sieht in der von Geistesgrössen wie Albert Heim oder F.-A. Forel gegründeten Kommission eine Art Musterbeispiel für die ganzheitliche Wissenschaftspraxis der frühen Seismologie, die dem Dialog mit der Bevölkerung und deren Beobachtungen grossen Wert beimass. Sie zeigt dabei überzeugend auf, dass die Schweizer Erdbebenforschung des späten 19. Jh. nicht allein Grundlagenforschung, sondern auch ein Projekt der Volksaufklärung («popular enlightenment»3) oder gar des Nation Building war: «The Swiss were being taught to feel the forces exerted by the mountains that united them» (S. 78). Zweifelhafter ist indes die These, dass die Erdbebenkommission bereits die Klärung der seismischen Gefährdung der grossen Infrastrukturprojekte zum Ziel hatte (S. 74) und damit wesentliche Themen neuerer Hazard Studies vorwegnahm.

«Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben.»4 Aus jeder unserer Äusserungen spricht der historische Kontext. Und so ist Coen nicht nur ein höchst lesenswerter Beitrag zu aktuellen Debatten der Wissenschaftsgeschichte – wie etwa Professionalisierung, Disziplinenbildung oder Objektivität – gelungen, dessen Relevanz weit über die Geowissenschaften hinausreicht. Der an der Schnittstelle Erdbeben gebündelte Diskurs – zwischen Forschern und Gelehrten, Intellektuellen und Kulturschaffenden, Beamten, Journalisten und gewöhnlichen Bürgern – erzählt vielmehr eine – ihrerseits sehr ganzheitliche – Wissensgeschichte,5die als kleine Kulturgeschichte der Moderne «on the cusp of the technocratic age»6 gelesen werden kann.

1 Max Frisch, Der Mensch erscheint im Holozän. Eine Erzählung, Frankfurt a.M. 1979, S. 271.
2 Die «citizen science» wurde in der Seismologie in jüngerer Zeit wieder vermehrt aufgegriffen (cf. Coen, op. cit., S. 269ff.; Richard M. Allen, Transforming Earthquake Detection?, in: Science 335 (6066), Januar 2012, S. 297–298) und ist gängige Praxis vieler Fachstellen, so auch des Schweizerischen Erdbebendienstes der ETH Zürich (<http:// www.seismo.ethz.ch/eq/detected/>).
3 Z.B. S. 78; cf. Theodore M. Porter, How Science Became Technical, in: Isis 100 (2), Juni 2009, S. 299: «The Enlightenment – if this term may be taken to designate a faith in progress through the popular diffusion of knowledge – took place in the nineteenth century.»
4 Max Frisch, Tagebuch, 1946–1949, Frankfurt a.M. 1985, S. 19.
5 Cf. Daniel Speich Chassé, David Gugerli, Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 1(2012), S. 85–100.
6 Deborah R. Coen, The Tongues of Seismology in Nineteenth-Century Switzerland, in: Science in Context 25 (01), Januar 2012, S. 73; cf. Porter, op. cit., S. 304.

Zitierweise:
Remo Grolimund: Rezension zu: Deborah R. Coen: The Earthquake Observers. Disaster Science from Lisbon to Richter. Chicago, University of Chicago Press, 2013. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 182-183.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 64 Nr. 1, 2014, S. 182-183.

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