P. Kupper: Wildnis schaffen

Cover
Titel
Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks


Autor(en)
Kupper, Patrick
Reihe
Nationalpark-Forschung in der Schweiz 97
Erschienen
Ber 2012: Haupt Verlag
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alexandra Vlachos

In der Umweltgeschichte nimmt die Diskussion, was unter dem Begriff «Natur» subsumiert wird, eine prominente Rolle ein, zumal erkannt wurde, dass es sich beim Natur- bzw. Wildnisbegriff um ein sozial determiniertes Konstrukt handelt, das entsprechend auch instrumentalisiert werden kann. Somit stellt sich auch beim Thema Naturschutz die Frage, welche «Natur» denn überhaupt bewahrt werden soll und wie dies zu geschehen habe.

Der Zürcher Umwelthistoriker Patrick Kupper gliedert seine Geschichte des Schweizerischen Nationalparks in folgende sechs Grosskapitel: Globale Parks, Nationale Naturen, Lokale Landschaften, Totaler Schutz, Ökologisches Laborfeld und Grenzen der Wildnis. Das zentrale Anliegen des reich bebilderten Buches ist es, «jene historischen Prozesse zu rekonstruieren, in denen der Schweizerische Nationalpark zu einem Ort alpiner Wildnis gemacht wurde, und die Konsequenzen zu beleuchten, die sich daraus ergaben» (S. 16). Theoretisch-methodisch orientiert sich Kupper sinnvollerweise an der nordamerikanischen Wildnis-Debatte (Nash/Cronon) und zieht ergänzend die Konzepte von der «Heterotopie» (Foucault) und «Environmentality» (Agrawal) bei. Anstelle einer ausführlichen methodischen Abhandlung in der Einleitung nimmt der Autor immer wieder konkret auf die theoretischen Konzepte Bezug und bindet sie so pragmatisch und lesefreundlich an die eigentliche Quellenstudie.

Ausgehend vom «Yellowstone-Mythos» (S. 28) ordnet Kupper die Entstehung des Schweizerischen Nationalparks den Bestrebungen der damals jungen, westlichen Nationalstaaten zu, zumindest einen Teil der durch Modernisierung und Urbanisierung zurückgedrängten Natur zu bewahren, und grenzt die helvetische Variante zugleich vom nordamerikanischen Vorgänger ab: Anders als bei Yellowstone wurden im Kanton Graubünden nicht spektakuläre Landschaften als nationale Symbole sowie Erholungs- und Rückzugsraum für eine vornehmlich urbane Bevölkerung reserviert. Vielmehr sollte ein möglichst grossflächiges, vielseitiges Gebiet vom Menschen abgeschottet und zu Forschungszwecken geschützt werden, damit sich mit der Zeit eine «helvetische Urnatur» zurückbilden könne (S. 65). Ästhetische Kriterien oder ein erwünschtes Besucheraufkommen spielten bei der Auswahl keine Rolle. Konträr zum amerikanischen Erholungs- und Öffentlichkeitsprinzip war der Schweizerische Nationalpark von seiner Gründung an auf «totalen Schutz» und als Experimentierfeld für die Wissenschaft ausgerichtet. Kupper greift die Herausforderungen, Widersprüche und Illusionen, aber auch Chancen und Kontinuitäten, die diese Ausrichtung mit sich brachten, anschaulich auf: Wie verträgt sich das Aussetzen von Steinwild mit dem Nichteinmischungsprinzip? Und was ist zu tun, wenn dieses Steinwild nur dann in den Parkgrenzen bleibt, wenn ihm Salzlecksteine zur Verfügung gestellt werden? Ein Schritt, der nicht nur einen aktiven Eingriff darstellt, sondern darüber hinaus aus dem Jagdwesen entlehnt ist? Dass das Konzept des «Totalschutzes» an seine Grenzen stiess, zeigt sich im Verlauf der Nationalparkgeschichte an Themen wie Waldbrände, Raubtiere oder Tierseuchen. Der Gründungsgedanke, der auf Stabilität und Kontinuität aufbaute, prallte auf die Realität(en) einer sich besonders seit der Nachkriegszeit rasant und dynamisch entwickelnden Gesellschaft und einem ebenso schnell wachsenden Besucher- und Verkehrsaufkommen. Das Naturbild dieser Gesellschaft – und damit auch die Vorstellung von Wildnis – verändert(e) sich laufend und stand im Widerspruch zu dem angestrebten «Urzustand der Natur», den sich die Gründungsväter im beginnenden 20. Jahrhundert als statisch vorgestellt hatten. Dominierten vor den Weltkriegen hauptsächlich die Suche nach einem geeigneten Territorium und einer breiten politischen und finanziellen Unterstützung die Parkgeschichte, war die Nachkriegszeit von dynamischen gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, die vor allem das Konzept des Totalschutzes ins Wanken geraten liessen: Grosse Herausforderungen stellten die Nachfrage nach Wasserkraft und das massiv erhöhte Verkehrsaufkommen dar. Ferner zeigte sich am Beispiel der zu schnell wachsenden Hirschpopulation, dass die «unberührte» Natur nicht wie erhofft automatisch zu einem harmonischen Gleichgewicht findet. Vielmehr führten die bald hundert Jahre Nationalparkgeschichte vor Augen, dass der Mensch Teil der Natur ist und sein Nicht-Eingreifen daher nichts Natürliches, sondern vielmehr etwas Künstliches darstellt. So argumentiert Kupper in einer Linie mit Latour, Nash und Cronon, wenn er den Wunsch nach «unberührter Natur» an die Entwicklung der Moderne koppelt: «Drei moderne Denkfiguren wurden als für die Genese der Nationalparkidee wesentlich erkannt: Erstens die Dualität (die Einteilung in duale Kategorien), zweitens die Globalität (die Erfassung der Welt als Einheit) und drittens die Evolution (die Anordnung des Weltgeschehens auf einem zeitlich gerichteten Entwicklungsstand)» (S. 290). Ein Schutzgebiet, das aus seinem Umland herausgeschnitten und fortan von menschlichen Einflüssen frei bleiben soll, basiert auf einer doppelten Illusion: räumlich durch seine künstlich gezogenen Grenzen und zeitlich durch die Langzeitperspektive der Wissenschaft, die im Gegensatz zum kürzeren Zeithorizont der ansässigen Bevölkerung und der Politik steht. So wurde die Rolle der lokalen Beteiligung und regionalen Akzeptanz in der Nachkriegszeit entsprechend wichtiger. War der Nationalpark einst aus seiner Umgebung «herausgekauft» worden (S. S. 133) und wurde zum «Fremdkörper» (ebd.) für die lokale Bevölkerung, musste er in der Folge gesellschaftlich und politisch wieder in diese integriert werden, um auf Dauer akzeptiert und mitgetragen zu werden.

So sei das Forschungsexperiment gescheitert – obwohl der Schweizerische Nationalpark von Beginn an besonders in wissenschaftlicher Hinsicht internationales Ansehen gewonnen hatte – und die Trennung von Mensch und Natur habe sich als Illusion herausgestellt, bilanziert Kupper (S. 295). Dennoch zeichnete sich der Schweizerische Nationalpark historisch durch eine hohe Kontinuität und zahlreiche Eigenheiten aus, die seine Geschichte nicht nur spannend, sondern auch lehrreich machen.

Pünktlich zum 100-jährigen Parkjubiläum im Jahr 2014 schliesst Kupper mit der ersten umfassenden Geschichte des Schweizerischen Nationalparks eine offensichtliche Lücke. Doch «Wildnis schaffen» vermag mehr als das: Vorbildlich gelingt der Spagat zwischen einer wissenschaftlich sorgfältig gearbeiteten, stringenten Studie und einer kurzweiligen, ansprechend bebilderten und klar strukturierter Lektüre. Kupper hat eine Nationalparkgeschichte geschrieben, die nicht nur weit über die eigene Disziplin hinaus Gefallen finden, sondern auch ausserhalb der Wissenschaft eine breite Leserschaft ansprechen wird.

Zitierweise:
Alexandra Vlachos: Rezension zu: Patrick Kupper: Wildnis schaffen. Eine transnationale Geschichte des Schweizerischen Nationalparks. Bern, Haupt Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 309-311.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 309-311.

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