M. Köppli: Protestantische Unternehmer in der Schweiz

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Titel
Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Christlicher Patriarchalismus im Zeitalter der Industrialisierung


Autor(en)
Köppli, Marcel
Reihe
Basler und Berner Studien zur historischen Theologie 74
Erschienen
Zürich 2012: Theologischer Verlag Zürich
Anzahl Seiten
246 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Andrea Franc

Der Zürcher Theologe Marcel Köppli vermittelt in seiner Dissertation einen Blick auf die paläoliberale Phase zu Beginn des Industriezeitalters, als der junge Bundesstaat noch keinerlei gesetzliche Reglementierung zum Schutz der Fabrikarbeiter erlassen hatte und Unternehmer Ursachen und Lösungen der sozialen Frage diskutierten. Er untersuchte dafür den schweizerischen Ausschuss für die Bestrebungen der Bonner Konferenz (SABBK), der mehrheitlich protestantische Schweizer Unternehmer umfasste und nach nur kurzem Bestehen 1871–1872 in der Kommission für die Arbeiterfrage der Schweizerischen Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (SGG) aufging. Die Bonner Konferenz beziehungsweise die Bestrebungen der protestantischen Unternehmer in Deutschland zur Lösung der sozialen Frage wurden in der Forschung zum sozialen Protestantismus untersucht. Köppli orientiert sich bei der Kategorisierung des christlichen Patriarchalismus an Traugott Jähnichen. Er geht biografisch vor und untersucht vor allem den frommen pietistischen Basler Seidenbandfabrikanten Karl Sarasin (1815–1886), der den Ausschuss initiierte, der Kommission für die Arbeiterfrage der SGG angehörte und nicht nur viel zum Thema öffentlich sprach und publizierte, sondern seine Ansichten auch in seiner eigenen Unternehmung umsetzte.

Die untersuchten Schweizer Unternehmer hatten ihre Fabriken oft selbst gegründet oder vom Vater übernommen und wurden insbesondere in den Städten, wo die Arbeiter ihr Einkommen nicht mit Landwirtschaft ergänzen konnten, mit dem Pauperismus konfrontiert. Erste Äusserungen, auch von Seiten der schweizerischen Predigergesellschaft, schoben den Arbeitern die Schuld für ihre Armut zu und sahen die Ursachen des Pauperismus in der Sittenlosigkeit, dem schlechten Haushalten und der Gottlosigkeit. Sarasin regte innerhalb der Kommission für die Arbeiterfrage der SGG eine Untersuchung der Verhältnisse der Arbeiter an, so entstand eine der ersten sozialstatistischen Studien. Diese wies auf ein Existenzminimum beziehungsweise auf zu tiefe Löhne hin. Vor bzw. parallel zu diesen Studien hatte Sarasin für seine eigenen Arbeiter ein pietistisch-patriarchalisches Globalprogramm eingerichtet. Er, wie auch andere Unternehmer, bezeichnete diese als seine Kinder. Er selbst und seine Frau versuchten, alle Arbeiter und deren Familien zu kennen, sie führten sogenannte Arbeiterbücher, um über deren Verhältnisse und Gesundheit Bescheid zu wissen und somit den Bedarf nach Lohn abschätzen zu können. Er richtete Sonntagssäle ein und engagierte Stadtmissionare. Während diese durch christlichen Patriarchalismus gerechtfertigte Kontrolle der Familien keine Zukunft hatte, so propagierte und praktizierte Sarasin ein Konzept, das heute noch, am prominentesten vom peruanischen Ökonomen Hernando de Soto, zur Armutsbekämpfung ins Feld geführt wird: den Erwerb von Eigentum. Gemäss Sarasin war es nicht nur die Aufgabe des christlichen Unternehmers, den Arbeitern Wohnraum zur Verfügung zu stellen, sondern diesen die Abzahlung der Häuschen zu ermöglichen. Die kantonalen Fabrikgesetze, wie auch das 1877 vom Volk gutgeheissene eidgenössische Fabrikgesetz, wurden von einigen der porträtierten Unternehmer zwar massgebend mitgestaltet, keiner von ihnen hielt jedoch staatliche Gesetze oder Interventionen für die eigentliche Lösung der sozialen Frage. Einzig der Unternehmer selbst, der sein Gut nur zu seinen Lebzeiten zu verwalten hatte, war für das Wohl der Arbeiter verantwortlich. In seiner Verantwortung stand es, die Arbeiter zu einem christlichen, sprich sittsamen Leben anzuleiten. Der Aargauer Textilunternehmer Johann Caspar Brunner (1831–1886), der aus einfachen Verhältnissen stammte und selbst als Kind in einer Fabrik gearbeitet hatte, sah die Fabrikarbeit an sich als Erziehungsmassnahme, die dem Arbeiter einen festen Rahmen und Disziplin vermittelte.

Köppli vermittelt klar, welcher Kategorie die Schweizer Unternehmer des SABBK zuzuordnen waren, bestätigt die These, dass auch der Schweizerische Protestantismus (wie der deutsche) zu wenig zur Lösung der sozialen Frage beitrug und erklärt mit den stark divergierenden Ansichten der Mitglieder sowie weiterer Quellenarbeit zur Arbeiterkommission der SGG, weshalb sich der SABBK so schnell wieder auflöste. Die unter Martin Sallmann an der Universität Bern entstandene Studie ergänzt die Schweizerische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts durch ihre Sicht auf die Arbeitgeber, deren Motivation und Bestrebungen. Immer wieder bezieht sich Köppli denn auch auf Josef Mooser. Die Entstehungsgeschichte der Fabrikgesetze, aber auch jene mancher heute unter Denkmalschutz stehenden Arbeitersiedlung, wurde hier bedeutend ergänzt. Obwohl von einem Theologen geschrieben, unterscheidet sich die Doktorarbeit nicht von einer historischen Arbeit. Sie basiert auf einer breiten und sehr gründlichen Quellenarbeit, wobei eine zentrale Schrift im Anhang gleich ediert wurde. Die gewählte, aber doch eingängige Sprache verrät am ehesten den geschulten Prediger am Werk und macht das Buch, auch aufgrund seiner verhältnismässigen Kürze auch für interessierte Laien empfehlenswert

Zitierweise:
Andrea Franc: Rezension zu: Marcel Köppli: Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Christlicher Patriarchalismus im Zeitalter der Industrialisierung. Zürich, Theologischer Verlag, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 1, 2013, S. 150-152.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 1, 2013, S. 150-152.

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