S. Baumann: …und es kamen auch Frauen

Cover
Titel
…und es kamen auch Frauen. Engagement italienischer Migrantinnen in Politik und Gesellschaft der Nachkriegsschweiz


Autor(en)
Baumann, Sarah
Reihe
Geschlechterfragen – Questions de genre
Erschienen
Zürich 2014: Seismo Verlag
Anzahl Seiten
192 S.
Preis
€ 25,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Edith Siegenthaler, Historisches Institut, Universität Bern

Der Titel des Buchs weist auf die migrationshistorische Situierung der Studie von Sarah Baumann hin. Er bezieht sich auf das Diktum des Schweizer Schriftstellers Max Frisch zur italienischen Arbeitsimmigration in den 1950er- und 1960er-Jahren „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“. Die wissenschaftliche Untersuchung der Migration hat unter diesen Menschen lange Zeit vor allem Männer verstanden und Frauen darunter allenfalls als passive Begleiterinnen subsummiert. Sarah Baumann stellt in ihrer Studie italienische Migrantinnen ins Zentrum ihrer Fragestellung und sie tut dies weniger im Hinblick auf deren Leben in der Schweiz aus einer strukturgeschichtlichen Perspektive, sondern sie rückt deren politisches Handeln ins Zentrum ihrer Untersuchung, wobei sie ein breites Verständnis von Politik voraussetzt. Ihr Anliegen ist es, italienische Migrantinnen nicht in erster Linie als passive Begleiterinnen ihrer Männer zu zeigen, sondern als politisch Handelnde in ihrem (transnationalen) gesellschaftlichen Wirken, indem sie das Engagement der Frauen in der Federazione delle Colonie Libere Italiane in Svizzera (FCLIS), der damals größten Organisation der italienischen Migrationsgemeinschaft in der Schweiz, untersucht. Damit öffnet sie ein in der Schweiz bisher nicht aus historischer Perspektive erforschtes Feld.

Im Gegensatz zum Diktum von Frisch nimmt Sarah Baumann in ihrer Studie in erster Linie die Perspektive der in den FCLIS engagierten Migrantinnen ein und weniger diejenige der Zuwanderungsgesellschaft. Um Migrantinnen als Handelnde zu zeigen, nimmt die Studie eine akteurszentrierte Perspektive ein, die die Autorin schwerpunktmäßig auf der Grundlage schriftlicher Quellen der Frauenkommission der FCLIS erarbeitete. Zur Einordnung der Ergebnisse führte sie zusätzlich Interviews mit historischen Akteurinnen. Zum besseren Verständnis wäre es hilfreich gewesen, mehr über die biografischen Hintergründe der Frauen, die sich in der Frauenkommission der FCLIS engagierten, zu erfahren. Eine solche Herangehensweise hätte das Interviewmaterial systematischer auswerten können. Fichen, wie sie die Schweizer Staatsschutzbehörden in den untersuchten Jahren üblicherweise über politisch aktive Ausländerinnen und Ausländer anlegten, hätten zudem Aufschlüsse über personelle Beziehungen zu anderen Organisationen geboten, sodass die Handlungsstrategien der Akteurinnen noch deutlicher geworden wären.

Die Studie beleuchtet in fünf Kapiteln die Tätigkeit der Frauenkommission der FCLIS von den 1940er- bis Ende der 1970er-Jahre, wobei der Fokus auf der Zeit von 1967 bis 1979 liegt. Sarah Baumann teilt diesen Zeitraum in fünf Phasen ein: In der ersten Phase bis 1966 stellt sie eine traditionelle Rolle von Frauen innerhalb der FCLIS fest, das heißt ein niedriger Organisationsgrad unter den Frauen und eine Beschränkung ihrer Tätigkeiten auf karitative Funktionen.

In der Phase von 1967 bis 1969 trat eine Gruppe von jungen Feministinnen auf, die von der FCLIS verlangte, dass die spezifischen sozio-ökonomischen Diskriminierungen von arbeitenden Migrantinnen zur Kenntnis genommen und in einer Frauenkommission bearbeitet werden. Höhepunkt dieser Phase war der „Kongress der Migrantin“ von 1967, der zur Einsetzung einer Frauenkommission in der FCLIS führte. Über den Kongress hinaus gelang es aber nicht, italienische Migrantinnen für die Mitarbeit in der FCLIS zu gewinnen, um die von Männern dominierten Strukturen aufzubrechen. Deshalb beschloss die Frauenkommission 1970, sich weniger auf arbeitsrechtliche Fragen und stattdessen auf Schulfragen zu konzentrieren. Die Bearbeitung dieser zur Sphäre der Familie gehörenden Fragen sollte es ermöglichen, mehr Frauen anzusprechen und zu mobilisieren. Auf Initiative von Akteurinnen der Frauenkommission wurden lokale Elternkomitees gegründet, um italienischen Eltern bei Entscheiden von Schulbehörden zumindest eine konsultative Stimme zu geben. Gleichzeitig wurden schulpolitische Forderungen nach größerer Chancengleichheit in der Schule und damit nach gesellschaftlicher Teilhabe von Migrantinnen und Migranten der zweiten Generation gestellt.

1975, dem UNO-Jahr der Frau, widmet Sarah Baumann ein eigenes Kapitel. Damals nahm die Frauenkommission der FCLIS ihre Arbeit als Frauenkommission wieder auf und organisierte in Zusammenarbeit mit kirchlichen (Frauen-)Organisationen eine Tagung, die das „Manifest ausländischer Frauen“ erarbeitete. Dieses Manifest zielte auf eine Verbesserung der Situation der Frauen in den Bereichen Arbeit, Familie und Gesundheit sowie in sozialen und politischen Fragen. Die Stellungnahmen anderer Organisationen dazu und die Teilnahme der Frauenkommission am Kongress der bürgerlichen Frauenorganisationen und am Antikongress der Neuen Frauenbewegung zeugen von den Austauschprozessen, die diese Kongresse zum internationalen Jahr der Frau ermöglichten.

Im letzten Kapitel, das den Zeitraum von 1976 bis 1979 abdeckt, zeichnet Sarah Baumann die letzten Jahre der Aktivität der Frauenkommission der FCLIS nach. Einerseits wurde mit der Gründung des Consultorio Donne in Emigrazione in Zürich eine neue Struktur zur Beratung von Migrantinnen geschaffen. Andererseits zeigten sich bei den Akteurinnen zunehmend Ermüdungserscheinungen angesichts der kaum erfolgenden Mobilisierung von Frauen in der FCLIS, sodass die Frauenkommission im Rahmen einer Restrukturierung 1980 aufgelöst wurde.

Die quellengeleitete Periodisierung anhand der Schwerpunkte des Engagements überzeugt. Sarah Baumann erklärt die entsprechenden Strategieänderungen größtenteils mit den Überlegungen von Zig Layton-Henry, der von einem Zusammenhang zwischen den Aktivitäten von Migrationsorganisationen und einzelnen Migrationsphasen ausgeht.1 Aus der Perspektive der historischen Forschung zur Frauenbewegung lassen sich in den verschiedenen Phasen aber auch Parallelen zur Entwicklung der Neuen Frauenbewegung und der Neuen Linken generell ziehen. Ein Kontextkapitel zur Schweizer Frauenbewegung oder zur Neuen Linken in der Schweiz hätte hier weitere Perspektiven eröffnet und eine breitere historische Kontextualisierung ermöglicht.

Eines der Ziele der Untersuchung ist es, die Zusammenarbeit der italienischen Migrantinnen der FCLIS mit der Schweizer Frauenbewegung zu untersuchen. Diese Fragestellung ist insofern interessant, als in bisherigen Studien über die Schweizer Frauenbewegung in der Nachkriegszeit diese Beziehungen nicht untersucht wurden.2 Zudem legt die Studie den Schwerpunkt auf einen Zeitraum, in welchem die Neue Frauenbewegung entstand und sich gegenüber den bürgerlichen Frauenorganisationen abgrenzte. Sarah Baumann kommt zum Schluss, dass die Migrantinnen in den bürgerlichen Frauenorganisationen, mit Ausnahme des Katholischen und des Evangelischen Frauenbunds, weitgehend ausgeblendet wurden und die Forderungen von Migrantinnen mit Verweis auf den Vorrang der einheimischen gegenüber der ausländischen Bevölkerung klar abgelehnt wurden. Erst in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre gerieten Migrantinnen in den Blick der bürgerlichen Frauenorganisationen, wobei dieser Blick vorwiegend die Migrantin als von ihrer „Kultur“ geprägte, hilflose Ehefrau und Mutter auffasste. Dieses Bild reflektiert laut Sarah Baumann den unterschiedlichen Erfahrungshorizont und die unterschiedliche Schichtzugehörigkeit der Akteurinnen der bürgerlichen Frauenorganisationen. Die unterschiedliche Schichtzugehörigkeit zeigte sich auch zwischen der Frauenkommission der FCLIS, deren Mitglieder mehrheitlich nicht Arbeiterinnen, sondern höher gebildete Frauen waren, und der überwiegenden Mehrheit der italienischen Migrantinnen, was die Schwierigkeiten bei der Mobilisierung erklärt. Von der Frauenkommission wurden diese Mobilisierungsschwierigkeiten nicht mit der „kulturellen“ Stellung der Migrantinnen erklärt, sondern mit den strukturellen Diskriminierungen gegenüber Migrantinnen. Mit dieser Analyse war die Frauenkommission näher an den Analysen der Neuen Frauenbewegung. Diese stellte aber die Geschlechterdifferenz als Ursache von Ungleichheit über die Existenz von weiteren Differenzen wie zum Beispiel der Nationalität, was die spezifischen Bedürfnisse von Migrantinnen in den Hintergrund treten ließ.

Die Studie von Sarah Baumann zeigt eindrücklich, welche Schwierigkeiten sich den Migrantinnen gerade wegen ihrer spezifischen Position als Frau und Ausländerin in der Schweiz der Nachkriegszeit stellten. Die Untersuchung der Aktivitäten der Frauenkommission der FCLIS leistet einen wichtigen Beitrag, um den Effekt der Überkreuzungen von Differenzkategorien zu erforschen und zeigt, welche fruchtbaren Fragestellungen mit intersektionellen Forschungsansätzen in der historischen Forschung möglich sind.

Anmerkungen:
1 Zig Layton-Henry, Immigrant Associations, in: Zig Layton-Henry (Hrsg.), The Political Rights of Migrant Workers in Western Europe, London 1990, S. 94–112.
2 Vgl. beispielsweise: Kristina Schulz / Leena Schmitter / Sarah Kiani (Hrsg.), Frauenbewegung – Die Schweiz seit 1968. Analysen, Dokumente, Archive, Baden 2014.

Redaktion
Veröffentlicht am
12.02.2015
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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