A. Brunschwig: Heimat Biel

Cover
Titel
Heimat Biel. Geschichte der Juden in einer Schweizer Stadt vom Spätmittelalter bis 1945


Autor(en)
Brunschwig, Annette
Reihe
Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz. Schriftenreihe des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds 15
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Der neueste Band in den Beiträgen zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz ist in eine Reihe zu stellen mit den Arbeiten von Karin Huser 2007 (Geschichte der Juden im Kanton Solothurn) und von Noëmi Siebold 2010 (Geschichte der Juden in Basel). Es ist ein besonderer Glücksfall, dass fast das ganze Archiv der Israelitischen Cultusgemeinde Biel (ICB) erhalten geblieben ist. Rund 3000 Dokumente (v.a. Briefe, Postkarten und Formulare) lagerten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem Dachboden der Bieler Synagoge, wurden während der Arbeit an dieser Publikation geordnet und befinden sich heute im Stadtarchiv Biel. Für den Zeitraum von 1933 bis 1945, der einen Schwerpunkt der Publikation bildet, wurden ferner die Flüchtlingsdossiers des Verbandes Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) im Archiv für Zeitgeschichte, die Personendossiers und die Unterlagen des Schweizerischen Hilfswerks für Emigrantenkinder (SHEK) im Bundesarchiv sowie die Korrespondenz zwischen Regina Kägi-Fuchsmann und den vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk (SAH) in Biel betreuten Flüchtlingen im Schweizerischen Sozialarchiv herangezogen. Grundlegende Texte zur Geschichte der jüdischen Einwohner Biel fehlen in den bisherigen Werken zur Bieler Stadtgeschichte, ein Mangel, dem in der neuen Bieler Geschichte abgeholfen werden soll.

Die Geschichte der Juden in Biel ist zweigeteilt. Die erste Periode (Kapitel I) beginnt mit der Einbürgerung einer jüdischen Familie in Biel im Jahr 1305 und endet mit der Ausweisung der Juden aus Biel um 1450, einem Vorgang, dessen Gründe noch nicht ganz erhellt sind.

Die zweite Periode setzt ein mit den Jahren 1818 / 1819, als erstmals wieder ein permanenter jüdischer Einwohner in Biel aktenmässig belegt werden kann. Im Kapitel II wird die Entstehung der jüdischen Gemeinde beschrieben. 1856 lebten gemäss der kantonalen Volkszählung in Biel 33 Israeliten. Bis 1900 wuchs die jüdische Gemeinde auf 336 Personen an. Die meisten jüdischen Familien wanderten aus dem Elsass ein und waren häufig in der Uhrenmanufaktur tätig. Biel zeigte sich relativ offen und wählte schon 1866 den israelitischen Gemeindebürger Louis Gerson in die deutsche Primarschulkommission, zu einem Zeitpunkt also, als andere Kantone noch nicht daran dachten, den Juden die freie Niederlassung zu gewähren. 1858 gewährte der Kanton Bern den jüdischen Bewohnern Biels die freie Ausübung ihrer Religion. Das war die Geburtsstunde der Israelitischen Cultusgemeinde Biel (ICB). Dank dem reichen Archivmaterial kann Annette Brunschwig Leben und Struktur der ICB detailliert nachzeichnen (Statuten, Finanzen, Bau der Synagoge, Friedhof, Kultusbeamte und Rabbiner, Religionsschule, Vereine, darunter der israelitische Frauenverein).

Kapitel III wirft einen Blick auf den wirtschaftlichen Aufstieg des Bieler Judentums, der sich vor allem im Bereich der Uhrenindustrie, des Detailhandels und der Warenhäuser abspielt. Erstmals wird belegt, welchen gewichtigen Beitrag die jüdische Gemeindebürgerschaft Biels zur städtischen Wirtschaftsentwicklung in der zweiten Phase der Industrialisierung geleistet hat.

Kapitel IV beleuchtet die Jahre zwischen 1900 und 1933. Interessant ist der Kulturzusammenstoss zwischen den assimilierten und integrierten westeuropäisch-schweizerischen Juden und den ab der Jahrhundertwende einwandernden Ostjuden, wobei es aber dank dem Wirken des ersten ordinierten Bieler Rabbiners Chaim Lauer gelang, die Gegensätze zu überbrücken. Das gewichtige Kapitel V ist überschrieben mit Vertriebene sind wir und beschreibt die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Es ist gleichzeitig das eindrücklichste Kapitel. Die Autorin stellt nicht nur die administrativ-organisatorische Seite der Flüchtlingsbetreuung dar (Hilfsorganisationen, Internierungslager, Kinderheime, Briefverkehr mit den Internierungsbehörden, Freiplatzaktionen, Pflegeltern) dar, bei denen allzu oft administrativer Antisemitismus und Behördenwillkür durchschimmerte, sondern auch das selbstloseWirken einzelner Personen wie etwa von Else Lauer, der Ehefrau des Bieler Rabbiners Chaim Lauer. Aus der Fülle von amtlichen Flüchtlingsakten und Briefwechseln wurden exemplarisch einzelne bewegende Flüchtlingsschicksale rekonstruiert.

Im Anhang finden sich interessante Dokumente und Statistiken, beginnend mit dem lateinischen Bieler Ratserlass betreffend die Juden von 1305 (verdienstlicherweise mit tadelloser deutscher Übersetzung). Es folgen in Tabellenform die Amtsträger der Israelitischen Cultusgemeinde, die Präsidentinnen des israelitischen Frauenvereins, die jüdischen Einwanderer in Biel 1865 –1898, die Baugesuche von jüdischen Bieler Bürgern 1866 – 1919, die jüdischen Uhrenindustriellen und Geschäftsinhaber in Biel vor 1914, schliesslich eine Liste der Flüchtlingskinder und ihrer Pflegefamilien zwischen 1942 und 1945. Bemerkenswert: von 35 Einbürgerungen von Bieler Juden zwischen 1883 und 1920 ausserhalb von Biel entfielen 10 auf die Gemeinde Aegerten.

Ein sorgfältiger Anmerkungsapparat, eine umfassende Bibliografie sowie ein Ortsund Namenregister erschliessen den Band aufs Beste.

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Brunschwig, Annette: Heimat Biel. Geschichte der Juden in einer Schweizer Stadt vom Spätmittelalter bis 1945. Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, Bd. 15. Zürich: Chronos 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 59-61.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 4, 2013, S. 59-61.

Weitere Informationen
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit