M. Leuenberger u.a.: «Die Behörde beschliesst» – Zum Wohl des Kindes?

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Titel
«Die Behörde beschliesst» – Zum Wohl des Kindes?. Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912 – 1978


Autor(en)
Leuenberger, Marco; Mani, Lea; Rudin, Simone; Seglias, Loretta
Reihe
Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern 87
Erschienen
Baden 2011: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Tanja Rietmann

«In Madiswil haben wir sehr viele Pflegekinder, in jedem Bauernhaus sozusagen eines; in meiner Klasse machen die Pflegekinder rund einen Drittel aus.» (S. 37) Wie dieser Aussage aus einem Protokoll der bernischen Armeninspektoren vom 21. Juli 1942 zu entnehmen ist, war das Pflegekinderwesen noch Mitte des 20. Jahrhunderts von beträchtlichem quantitativen Umfang, der von den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht übersehen werden konnte. Genaue Zahlen jedoch fehlen, nicht allein für den Kanton Bern, sondern für alle Kantone der Schweiz. Die Aktenlage ist lückenhaft und der Anteil von Fremdplatzierungen, die privat vorgenommen und nicht aktenkundig wurden, ist hoch. Diese Wissenslücke vermag denn auch die Studie «Die Behörde beschliesst» – zum Wohl des Kindes? Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912 –1978, die als Auftragsstudie des Kantons Bern entstanden ist, nicht zu schliessen. Die Studie zeigt jedoch eindrücklich, auf welch selbstverständliche Weise bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Fremdplatzierung von Kindern zum gängigen Repertoire einerautoritär-repressiven Armenpolitik zählte.

Die Studie ist in drei Teile gegliedert. In einem ersten Teil werden die Rechtsgrundlagen für die Fremdplatzierungen rekonstruiert, die in verstreuten Erlassen auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene zu finden sind. Die Autorinnen und der Autor zeigen auf, in welchen historischen Kontexten sich die rechtlichen Bestimmungen im Lauf des 20. Jahrhunderts zunehmend verdichteten und wie hierbei insbesondere die staatliche Aufsicht über das Pflegekinderwesen zunehmend ausgebaut und koordiniert wurde. Dieser Ausbau kann jedoch nicht allein als kontinuierliches behördliches Bemühen um «Modernisierung» oder «Fortschritt» gelesen werden, sondern war, wie die Studie sorgfältig aufzeigt, geprägt von Widerständen und verschlepptem behördlichen Handeln. So beschloss die Gemeinde Lützelflüh 1930 ein Reglement zur Pflegekinderaufsicht, ein solches trat jedoch erst knapp fünfzehn Jahre später, 1944, in Kraft. Eine geeignete Aufsichtsperson zu finden, erwies sich ebenfalls als mühevoll und zuletzt sah sich die Gemeinde veranlasst, einen Lehrer in Abwesenheit in das entsprechende Amt zu wählen.

Im zweiten Teil untersucht die Studie die konkrete Fremdplatzierungspraxis in Sumiswald und Lützelflüh, zwei ländlichen Gemeinden im Emmental. Die Aktenlage in diesen beiden Gemeinden erlaubt insbesondere eine Rekonstruktion der behördlichen Sichtweisen und Handlungslogiken. Die Sicht der betroffenen Familien, und noch stärker jene der betroffenen Kinder, bleibt in den meisten Fällen im Dunkeln. Dass deren Erleben und Anliegen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein für die Behörden keine handlungsrelevante Bedeutung hatte, zeigt eindrücklich die Analyse von Interviews mit ehemals Betroffenen im dritten Teil der Studie.

Die Auswertung von 12 Interviews verweist auf ein breites Spektrum, wie betroffene Kinder eine Fremdplatzierung erlebten und wie sie eine solche als Kind, Jugendliche und später als Erwachsene bewältigten. Es zeigt sich, dass die Kinder insbesondere dann unter einer Fremdplatzierung litten, wenn sie sich dieser ohnmächtig ausgeliefert fühlten, wenn sie keinen oder kaum Kontakt zu ihren leiblichen Eltern hatten und sie sich – schlimmer noch – von ihren leiblichen Eltern zurückgestossen fühlten. Viele Kinder litten unter ausbeuterischen Arbeitssituationen, sexueller und physischer Gewalt und machten die leidvolle Erfahrung massiver emotionaler und sozialer Zurücksetzung. Wie wichtig es ist, den Blick auf diese Mikroebene des Erlebens und der Handlungsräume einzelner Individuen zur richten, zeigt zum Beispiel die in den Interviews verschiedentlich vorfindbare Aussage, dass zwar eine Aufsichtsperson in einer kontrollierenden Funktion den Pflegeplatz besucht habe, dieser Besuch jedoch als reine Scheinhandlung erlebt worden sei, da den Kindern von der Pflegefamilie verboten worden sei, etwas über das Erlebte zu erzählen. Dadurch wurden Isolation und Ohnmachtsgefühle verstärkt. Die oben genannte Entwicklung der zunehmenden Aufsicht im Bereich des Pflegekinderwesens muss also stets mit dem Verweis auf die konkrete Praxis kritisch beleuchtet werden.

Insgesamt liefert die Studie einen wichtigen und differenzierten Einblick in die Fremdplatzierungspraxis und fördert in diesem Zusammenhang einige erstaunliche Resultate zutage, etwa, dass in Lützelflüh und Sumiswald die Anzahl fremdplatzierter Kinder zu Beginn der 1960er-Jahre Höchstwerte erreichte; bis anhin konstatierte die Forschung einen Rückgang der Zahlen nach dem Zweiten Weltkrieg und führte dies unter anderem auf die wirtschaftliche Konjunktur, die Mechanisierung der Landwirtschaft und die Institutionalisierung von Sozialversicherungen zurück. Solche Befunde verweisen auf die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen, um regionale Spezifika herausarbeiten und auf diese Weise ein umfassendes Verständnis der Fremdplatzierungspraxis im Kontext der Armen- und Fürsorgepolitik erhalten zu können. Ausgesprochen hilfreich ist die Studie insbesondere auch durch die Zusammenstellung und kurze Analyse der rechtlich relevanten Bestimmungen, wobei sie gleichzeitig auf verschiedene Forschungslücken verweist. So sah zum Beispiel das bernische Armenpolizeigesetz von 1912 die Bestrafung von Personen vor, welche Pflegekinder misshandelten. Ob und inwiefern diese Bestimmung Anwendung in der Praxis fand, ist jedoch noch unerforscht. Bezüglich der Darstellung der Rechtsgrundlagen wäre es im Weiteren spannend, die Analyse punktuell zu vertiefen und zum Beispiel unter Hinzuziehung weiteren Quellenmaterials genauer herauszuarbeiten, auf welche gesellschaftlichen Kräfte die Institutionalisierung der verdichteten Aufsichtsregelungen zurückzuführen war.

Zitierweise:
Tanja Rietmann: Rezension zu: Leuenberger, Marco; Mani, Lea; Rudin, Simone; Seglias, Loretta: «Die Behörde beschliesst» – Zum Wohl des Kindes? Fremdplatzierte Kinder im Kanton Bern 1912 – 1978. Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 87. Baden 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 3, 2013, S. 59-61.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 3, 2013, S. 59-61.

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