B. Studer u.a. (Hrsg.): Zwischen Aufsicht und Fürsorge

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Titel
Zwischen Aufsicht und Fürsorge. Die Geschichte der Bewährungshilfe im Kanton Bern


Herausgeber
Studer, Brigitte; Sonja, Matter
Erschienen
Bern 2011: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sibylle Hofer

Im Februar 1911 erliess der Grosse Rat des Kantons Bern ein Dekret über die Schutzaufsicht. Den 100. Jahrestag dieses Gesetzes nahm die Abteilung Bewährungshilfe und alternativer Strafvollzug zum Anlass, beim Historischen Institut der Universität Bern eine Untersuchung der Geschichte der Bewährungshilfe anzuregen. Das Ergebnis liegt nun in Gestalt eines Sammelbandes mit elf Beiträgen vor, die sich der Thematik aus verschiedenen Perspektiven nähern: Eva Keller, Die Entlassenenfürsorge und der Bernische Schutzaufsichtsverein 1839 – 1886 ; Andrea Baechtold, Welche Rechtsnormen braucht die Schutzaufsicht bzw. Bewährungshilfe? Die rechtliche Regelung auf Bundesebene und im Kanton Bern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert ; Urs Germann, Amtliche Schutzaufsicht und bedingter Straferlass im Kontext der bernischen Kriminalpolitik an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert; Markus Hochuli, Konkurrenz oder Kooperation? Private und staatliche Akteure in der Berner Schutzaufsicht im frühen 20. Jahrhundert ; Anja Sutter, Sorgen und Strafen. Entlassenenfürsorge und Schutzaufsicht von Frauen im Kanton Bern, 1890 – 1945 ; Tanja Rietmann, «Hier haben wir eine andere Kategorie von Menschen vor uns.» Die Schutzaufsicht über administrativ Versorgte ; Eliane Forster, Die Berner Schutzaufsicht in den 1960er Jahren. Akteurin zwischen Hilfe und Kontrolle ; Urs Germann, «S’il ne fait pas d’effort, l’être humain n’évolue pas.» Le sursis à l’exécution des peines et le patronage dans les années 1960 ; Ismael Albertin, Von der Schutzaufsicht zur Bewährungshilfe. Reformprozesse in den 1970 er und 1980 er Jahren ; Sonja Matter, Der Blick zurück in die jüngste Vergangenheit. Die Bewährungshilfe im Kanton Bern im ausgehenden 20. Und frühen 21. Jahrhundert – ein Gespräch mit Michael Imhof, Marianne Isenschmid und Hanspeter Michel ; Christin Achermann, La probation et les délinquantes et délinquants de nationalité étrangère.

Der Titel, den die Herausgeberinnen für den Sammelband gewählt haben, weist auf die Eckpunkte und zugleich auf das Spannungsfeld hin, in dem sich die Bewährungshilfe zu allen Zeiten bewegt: Aufsicht und Fürsorge. Auch wenn beiden Aspekten von Anfang an eine Bedeutung zuerkannt wurde, überwog doch zunächst klar der Gesichtspunkt der Aufsicht – worauf schon die ursprüngliche Bezeichnung «Schutzaufsicht » hindeutet. Diese Aufsicht bedeutete Kontrolle und Bevormundung, was u.a. E. Forster durch plastische Zitate aus Fallakten zeigt. Dabei wird auch deutlich, dass sich an dieser Konzeption lange Zeit kaum etwas änderte. Ein Paradigmenwechsel fand erst in den 1970er-Jahren statt. Im Vordergrund steht seitdem die Fürsorge im Sinn einer Unterstützung der Betroffenen, denen Hilfe zur Selbsthilfe geleistet werden soll (Beitrag von I. Albertin). Dementsprechend wurde das Amt für Schutzaufsicht 1993 in «Bewährungshilfe» umbenannt.

Ein weiterer Aspekt, der immer wieder in den Beiträgen angesprochen wird, ist das Verhältnis zwischen staatlicher Aufsicht und privatem Engagement. Im 19. Jahrhundertwaren es ausschliesslich Vereine, die Gefangene nach ihrer Entlassung aus einer Strafvollzugsanstalt unterstützten. Dabei prägten vor allem christliche Motive die Vereinsmitgliedschaften und -tätigkeiten (Beitrag von E. Keller). Auch nachdem die Schutzaufsicht 1911 zu einer staatlichen Aufgabe geworden war, blieb die Freiwilligenarbeit ein wichtiger personeller und finanzieller Faktor. Privatpersonen fungierten insbesondere als sogenannte Patrone, welche die unter Schutzaufsicht gestellten Personen berieten und kontrollierten. Allerdings verlief die Kooperation zwischen privaten Organisationen und der amtlichen Schutzaufsicht nicht immer ohne Konflikte (vgl. nur S. 61, 81).

Der Sammelband leistet einen wertvollen Forschungsbeitrag zur Geschichte der Bewährungshilfe. Zahlreiche Quellen, insbesondere Jahresberichte des Amtes für Schutzaufsicht und Fallakten, wurden ausgewertet. Ein Schwerpunkt der Darstellungen liegt auf der Organisation sowie der Rechtslage. Etwas weniger erfährt man von der Praxis – wohl auch deswegen, weil Vorarbeiten bzw. Materialien fehlen. Wie stets bei Sammelbänden besteht für den Leser das Problem, dass er sich das Gesamtbild aus verschiedenen Beiträgen zusammensetzen muss. Diese Arbeit wäre ihm durch zusätzliche Klarstellungen leichter gemacht worden, wie z.B. durch eine Übersicht über die zahlreichen privaten und staatlichen Organisationen, Ämter und Kommissionen, die im Laufe der Zeit Bewährungshilfeaufgaben wahrnahmen. Auch hätte das Verhältnis zum Rechtsinstitut der Vormundschaft verdeutlicht werden können. Insgesamt wird die Schutzaufsicht im Kanton Bern sehr isoliert betrachtet. Zwar wird auf die Bedeutung des Bundes-StGB von 1942 eingegangen und es erfolgen Hinweise auf Entwicklungen in England und Amerika. Eine Verbindung zur kriminalpolitischen Diskussion um die Jahrhundertwende wird dagegen nur behauptet und bleibt ohne Literaturhinweise. Infolgedessen erkennt beispielsweise nur der Leser, der mit dieser Diskussion vertraut ist, dass die Klassifikation der Gefangenen in «Besserungsfähige» und «Unverbesserliche» durch denGrossen Rat im Jahr 1890 (S. 53) eine Übernahme der nicht unumstrittenen Tätertypenlehre des bekannten Strafrechtlers Franz von Liszt bedeutete. Gerade eine Analyse, ob und inwieweit in Bern zeitgenössische nationale und internationale wissenschaftliche und politische Bestrebungen zur Reform des Strafvollzugs wahrgenommen und übernommen wurden, wäre jedoch spannend und aufschlussreich gewesen, da sie die kantonale Entwicklung in grössere Zusammenhänge eingebettet hätte.

Zitierweise:
Sibylle Hofer: Rezension zu: Studer, Brigitte ; Matter, Sonja (Hrsg.): Zwischen Aufsicht und Fürsorge. Die Geschichte der Bewährungshilfe im Kanton Bern. Bern: Stämpfli Verlag 2011. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 1, 2013, S. 51-53.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 75 Nr. 1, 2013, S. 51-53.

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