T. Lau: Nation und Konfession

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Titel
«Stiefbrüder». Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656–1712)


Autor(en)
Lau, Thomas
Reihe
Hexenforschung 12
Erschienen
Köln 2008: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Ulrich Pfister, Historisches Seminar, Universität Münster

Die Studie untersucht den Einfluss sakraler Gemeinschaftskonzepte auf die Genese des europäischen Nationalismus. Angesichts der ausgeprägten Konfessionalisierung der eidgenössischen Politik seit dem späten 16. Jh. bietet sich die Schweiz als Gegenstand einer Fallstudie zu diesem Thema an. Mit einem Schwerpunkt auf der Zeit vom Ersten zum Zweiten Villmerger Krieg behandelt die Untersuchung von Thomas Lau die Entwicklung von Bildern kollektiver Identität in der schweizerischen Eidgenossenschaft zwischen der Mitte des 16. und dem ersten Viertel des 18. Jh. Ausgangspunkt bilden humanistische Darstellungen der Eidgenossenschaft als Abstammungsgemeinschaft; Fluchtpunkte sind die gelegentliche Verwendung der Helvetia als säkulare Landespatronin und Verkörperung eines eidgenössischen Tugendkatalogs, die Begründung eines eidgenössischen Charakters in Landschaft und Klima, sowie die aus dem republikanischen Selbstverständnis, die auch eine Wertegemeinschaft impliziert, geschöpfte Identität.

Der Gang der Untersuchung vom Ausgangspunkt zum Ziel erfolgt in zwei grossen Schritten. Im ersten Teil wird die Konfessionalisierung der eidgenössischen Politik seit dem letzten Viertel des 16. Jh. dargestellt. Da sich der jeweils anderen Seite vorwerfen liess, sie habe den Glauben der Väter verlassen, implizierte die Glaubensspaltung das Zerbrechen der kollektiven Identität als Abstammungsgemeinschaft. An deren Stelle entwickelten sich im Zuge der Konfessionalisierung auch der Glaubenspraxis starke konfessionsspezifische kollektive Identitäten. Maria und Carlo Borromeo entwickelten sich zu Landespatronen der katholischen Eidgenossenschaft; Vernetzung mit anderen evangelischen Obrigkeiten und Buss- und Bettage schufen auch auf evangelischer Seite eine eigene Identität. Umgekehrt zerbrach überkonfessionelle Kommunikation sowohl auf der informellen Ebene (gut dargestellt anhand des Bäderbetriebs in Baden) als auch in institutioneller Hinsicht: Konfessionelle Treffen unterhalb der Tagsatzung, vor allem der V katholischen Orte und der IV evangelischen Städte, nahmen an quantitativer Bedeutung zu und liessen die Bedeutung der gesamteidgenössischen Tagsatzung zurück gehen. Durch den Goldenen Bund (1586) der katholischen Orte sowie weitere Sonderbündnisse wurde die konfessionelle Trennung institutionalisiert. Einen Höhepunkt erfuhr die Konfessionalisierung eidgenössischer Politik im Ersten Villmerger Krieg (1656). Aus der Abstammungsgemeinschaft waren Stiefbrüder geworden.

Der zweite Teil der Untersuchung ist mit «Rekonstruktion der Nation» betitelt und verfolgt damit die Wege, über die nach der Mitte des 17. Jh. jenseits der konfessionellen Spaltung neue Formen der kollektiven Identität konstruiert wurden. Zunächst wird die bekannte Lehrmeinung bestätigt, dass das französische Bündnis über mehrere Jahrzehnte zentral für den eidgenössischen Zusammenhalt war. Darüber hinaus erwuchs aus der engen Beziehung zu Frankreich die Gefahr, als gallischer Seitenstamm in einer inferioren Abhängigkeitsstellung in das von der französischen Krone propagierte Bild kollektiver Gemeinschaft integriert zu werden. Entsprechend waren seit dem letzten Viertel des 17. Jh. die Bemühungen von Gesandten der antifranzösischen Mächte zur Gewinnung der Eidgenossenschaft für ihr Anliegen auch von Angeboten einer alternativen kollektiven Identität begleitet. Die Darstellung des Sonnenkönigs als säkularisierter Antichrist bot das Potential der Identitätsschaffung über die Konstruktion von Alterität. Darüber hinaus wurden auch positive Angebote entwickelt, unter denen das Konzept der souveränen Republik besonders herausragt.

Vor dem Hintergrund der Hugenottenverfolgung wurde die antifranzösische Propaganda in den evangelischen Orten lebhaft rezipiert. Darüber hinaus bot vor allem die Aneignung des niederländischen Republikanismus einen Anknüpfungspunkt für Ansätze eines säkularen kollektiven Selbstverständnisses im eingangs beschriebenen Sinn.

Allerdings blieben diese Ansätze schwach beziehungsweise beschränkten sich auf die Entwicklung eines einzelörtischen Republikanismus. Dies erklärt, weshalb der schwelende Herrschaftskonflikt im Toggenburg sich im Zweiten Villmerger Krieg schlussendlich wieder zu einem Konflikt zwischen den Konfessionsparteien wendete. Die Niederlage der katholischen Seite führte zu einer nachhaltigen Verschiebung des eidgenössischen Machtgleichgewichts sowie dazu, dass die Entwicklung einer schweizerischen kollektiven Identität in einer langen Folgezeit in erster Linie von den evangelischen Orten getragen wurde. Es bleibt unklar, wieweit diese Geschichte einen Beitrag zum Verständnis der Entstehung des modernen Nationalismus leistet. «Waren die eidgenössische Nation und ihre Republik das, was Nipperday ‹Letztwerte› nennt?» Diese von Lau zwischendurch (398) rhetorisch gestellte, aber letztlich zentrale Frage dürfte wohl zu verneinen sein. Es bliebe dann zu klären, welche Funktion und Relevanz dem Image der Nation im frühen 18. Jh. zukam. Vor dem Hintergrund des zuletzt erwähnten Verlaufs des Toggenburger Konflikts würde man ihm bestenfalls ephemere Bedeutung zuweisen; kollektive politische Identität war in dieser Ära in erster Linie auf der Ebene der einzelnen Orte angesiedelt.

Die Wertung des dargebotenen Materials wird auch dadurch nicht erleichtert, dass der Autor in der umfangreichen Einleitung zwar einen rasenden Galopp durch die Literatur zum Nationalismus-Begriff absolviert, die eigene Arbeit aber nicht daran rückbindet. Auch wird der Untersuchungsplan nirgendwo entfaltet. Die im Titel erfolgte zeitliche Eingrenzung 1656–1712 wird weder begründet noch im Untersuchungsgang umgesetzt. Schliesslich müsste die grosse Bedeutung des Konfessionalismus in der Fragestellung eigentlich auch zu einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Konfessionalisierung motivieren. So liesse sich das Argument vorstellen, die Aufwertung universalistischer Elemente in der Glaubenspraxis beider Konfessionen, auf katholischer Seite etwa in Gestalt marianischer und christozentrischer Frömmigkeitsäusserungen, auf Kosten lokal ausgerichteter Formen der Glaubenspraxis habe die Grundlage für universalistische, von lokalen und regionalen Gemeinschaften abgelösten Konzepten der kollektiven Identität gelegt. In der Eidgenossenschaft war dies bestenfalls mit Bezug auf die säkularisierte Helvetia der Fall. In den Villmerger Konflikten bemühten die Protagonisten dagegen staatsrechtliche Argumente zur Legitimierung ihrer Positionen gerade jenseits konfessioneller Interessen, und wie erwähnt stellte der säkulare Republikanismus eine wichtige Grundlage für Ansätze eines neuen kollektiven Selbstverständnisses an der Wende zum 18. Jh. dar. Aus Sicht des Rezensenten zeigt somit die Studie, dass das konfessionelle Zeitalter nur in geringem Ausmass einen Beitrag zur Entwicklung von Images kollektiver Identität in der Ära danach geleistet hat.

Der Wert der Studie liegt vor diesem Hintergrund vor allem in der Darstellung eines beeindruckend breiten Materials, das aus zahlreichen verschiedenen Archiven und Sammlungen gewonnen wurde, zur eidgenössischen Geschichte des 17. und frühen 18. Jh. Besonders beeindruckt hat den Schreibenden die Darstellung des Ersten Villmerger Kriegs, weniger diejenige des Zweiten Villmerger Kriegs – da werden das Verhältnis des Toggenburgs und des Orts Schwyz zum St. Galler Abt nicht präzise dargestellt, und Wattwil wird zu Wädenswil verschrieben. Trotz der Fülle an einschlägigem Material bleiben aber Gesamtaussagen zur gesellschaftlichen Entwicklung der Schweiz in der untersuchten Zeit unklar: Die unterschiedliche Rezeption äusserer Einflüsse in katholischen und evangelischen Orten führt Lau auf wirtschaftlichen Strukturwandel zurück, der Elitendifferenzierung, vor allem in den Inneren Orten eine Krise von Klientelverbänden bewirkt haben soll (369f., 388f.). Diese eher jargonhaft vorgetragenen Aussagen werden kaum empirisch unterfüttert. Die Studie zeigt somit auch zahlreiche Forschungsdesiderate zur Schweizer Geschichte des 17. Jh. auf.

Zitierweise:
Ulrich Pfister: Rezension zu: Thomas Lau, «Stiefbrüder». Nation und Konfession in der Schweiz und in Europa (1656–1712), Köln, Böhlau, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 550-552.

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