S. Matter: Der Armut auf den Leib rücken

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Titel
Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960)


Autor(en)
Matter, Sonja
Erschienen
Zürich 2011: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Sabine Jenzer, Forschungsstelle für Schweizerische Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

In den letzten Jahren ist die Soziale Arbeit im entstehenden Schweizer Sozialstaat vermehrt in das Blickfeld der Forschung geraten. Sonja Matters Arbeit thematisiert die Geschichte der Professionalisierung der Sozialen Arbeit und schliesst eine Forschungslücke in der Schweizer Sozialstaatsgeschichte. Im Fokus der in einer geschlechtergeschichtlichen und transnationalen Perspektive angelegten Untersuchung liegen die treibenden Kräfte hinter der Professionalisierung der Armen- und Bedürftigenfürsorge sowie deren vielfältigen und bislang kaum untersuchten transnationalen Netzwerke. Zu diesen Kräften gehörten wesentlich die von Männern geprägte Schweizerische Armenpflegerkonferenz als Promotor einer modernisierten öffentlichen Fürsorge, sowie Exponentinnen der frühen Frauenbewegung, die auf eine Professionalisierung der meist von Frauen getätigten privaten Sozialen Arbeit abzielten. In einer intersektionellen Perspektive untersucht die Autorin, wie Geschlecht, Schicht und Religionszugehörigkeit die Ausgestaltung der Sozialen Arbeit beeinflusste. Dabei thematisiert sie auch die bislang in der Forschung kaum berücksichtigten Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der katholischen und der konfessionell «neutralen» Sozialen Arbeit.

Die gut strukturierte und leicht lesbare Arbeit ist chronologisch in drei Teile unterteilt: Sie beginnt mit den ersten zwei Jahrezehnten des 20. Jahrhunderts, in denen verschiedene Expertengruppen eine Verwissenschaftlichung der traditionellen Armenfürsorge anstrebten, mittels Etablierung von Ausbildungsgängen und Fachkonferenzen. Im zweiten Teil der Arbeit geht es um die Wissensproduktion in der Sozialen Arbeit in den 1920er bis 1940er Jahren. Der dritte Teil schliesslich dreht sich um Kontinuitäten und Wandel der Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Nachkriegszeit

Sonja Matter zeigt das spannungsreiche Konkurrenzverhältnis zwischen den weiblichen und den männlichen Akteuren auf. Bürgerliche Frauen gründeten seit den 1910er Jahren Soziale Frauenschulen, die sich rasch zu etablieren vermochten. Diese Schulen schafften es, in der ersten Jahrhunderthälfte den Professionalisierungsverlauf der Ausbildungspraxis in Sozialer Arbeit wesentlich zu beeinflussen. Das Ziel der Schulen war nicht zuletzt, bürgerlichen Frauen neue Erwerbsmöglichkeiten zu eröffnen. Die katholischen Sozialen Frauenschulen wollten zudem nicht nur die weibliche, sondern auch die katholische Perspektive in den liberal-protestantisch geprägten Bundesstaat einbringen. Sie orientierten sich in ihren Lehrinhalten bis in die 1950er Jahre an der katholischen Glaubensund Soziallehre.

Die 1905 gegründete Schweizerische Armenpflegerkonferenz stellte den Anspruch der Frauen in Frage, wesensbedingt für die Soziale Arbeit prädestiniert zu sein, und versuchte, für sich eigene Expertenpositionen und Arbeitsfelder abzustecken sowie die Armenfürsorge gegen die Einflussnahme der Frauen zu verteidigen. Dies gelang ihr auch in einigen zentralen Punkten, indem Frauen kaum in Schlüsselpositionen der öffentlichen Fürsorge gelangten. Die Armenpflegerkonfererenz entwickelte sich ferner rasch zu einer staatsnahen Kommunikationsplattform, die unter weitgehendem Ausschluss der Frauen der Vernetzung von Fürsorgebehörden und -politikern diente und den politischen Diskurs zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit zu dominieren vermochte. Lange Zeit erfolglos, nämlich bis 1961, blieben jedoch ihre wiederholten Bemühungen, die Soziale Arbeit auf Universitätsebene zu verankern.

Dieser ausseruniversitäre und forschungsferne institutionelle Rahmen der Sozialen Arbeit beeinflusste deren Wissensproduktion massgeblich. Die schweizerische Soziale Arbeit blieb stark praxisorientiert und leistete bis in die 1960er Jahre keine eigene Forschungsarbeit. Auch eine Methodendiskussion blieb bis zum Zweiten Weltkrieg bruchstückhaft, wenig reflektiert und fundiert.

Die schweizerische Soziale Arbeit orientierte sich seit dem frühen 20. Jahrhundert wesentlich an internationalen Vorbildern und rezipierte – begleitet von Widerständen und teilweise um Jahre verzögert – deren Ansätze. Während die Wegbereiterinnen der Sozialen Arbeit Ansätze bevorzugten, die auf ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Hilfsbedürftigen und Helfern abzielten (in den Anfängen das aus England stammende Settlement-System und seit den 1950er Jahren die amerikanische Social-Casework-Methode), orientierten sich die Exponenten der Armenpflegerkonferenz in erster Linie an einer rationellen, objektiven und individualisierten Einzelfallhilfe in der Tradition der deutschen Fürsorgemodelle des Elberfelder und Strassburger Armensystems. In den 1920er bis 1940er Jahren gewannen psychiatrische und eugenische Denkansätze in ihrem Fürsorgediskurs an Deutungsmacht.

Es waren in erster Linie die Frauen, die sich in den 1950er Jahren für die Integration der Social-Casework-Methode einsetzten und damit einen Wandel in der schweizerischen Sozialen Arbeit einleiteten. Dieser Ansatz, der anstelle der stark paternalistischen und disziplinierenden Fürsorgepraktiken eine vermehrt partnerschaftliche Soziale Arbeit unter Berücksichtigung der Menschenrechte propagierte, fand Eingang in die Fürsorgedebatten der 1950er und 1960er Jahren, wobei Exponentinnen der Sozialen Frauenschulen ein Expertenstatus zukam. Den traditionellen Methoden der Armenpflegerkonferenz hingegen wehte verstärkt ein rauher Wind entgegen.

Sonja Matters gelungene Arbeit ist fundiert recherchiert und methodisch reflektiert. Sie liefert einen wichtigen Puzzlestein zum besseren Verständnis der spezifischen Ausprägungen und Entwicklungslinien des schweizerischen Sozialstaates. Spannend wird sein, ihre Erkenntnisse über die Methodendiskussion und die vermittelten Lehrinhalte in der Sozialen Arbeit mit der Fürsorgepraxis zu vergleichen.

Zitierweise:
Sabine Jenzer: Rezension zu: Sonja Matter: Der Armut auf den Leib rücken. Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960). Zürich, Chronos, 2011. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 512-514

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 62 Nr. 3, 2012, S. 512-514

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