U. Altermatt: Konfession, Nation und Rom

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Titel
Konfession, Nation und Rom. Metamorphosen im schweizerischen und europäischen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Altermatt, Urs
Erschienen
Frauenfeld 2009: Huber Verlag
Anzahl Seiten
442 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nadine Ritzer, Lehrerinnen- und Lehrerbildung, Universität Fribourg PHZ Luzern

20 Jahre nach seinem längst zum Standardwerk avancierten Buch «Katholizismus und Moderne» leistet Urs Altermatt unter dem Betrachtungswinkel der neueren Politikgeschichte erneut einen wertvollen Beitrag zur Katholizismusforschung. Mit einem transnationalen Fokus untersucht Urs Altermatt die Triade «Religion, Staat, Nation» auf ihre Veränderungen und Kontinuitäten im 19. und 20. Jahrhundert hin und breitet die Ergebnisse seiner langjährigen Studien in einem facettenreichen Panorama vor den Lesenden aus. Ältere, teilweise überarbeitete Artikel und neue Forschungsresultate fügen sich zu einem abgerundeten Ganzen zusammen.

In der Einleitung stellt Urs Altermatt die Entwicklung der Schweizer Katholiken von den «Bürgern zweiter Klasse», den «unzuverlässigen Patrioten», als die sie im Kulturkampf von der protestantischen und national-liberalen Mehrheit betrachtet wurden, zu den «Gralshütern der Konkordanz» dar. Dabei betont der Historiker die doppelte Rolle des Ultramontanismus, der zugleich transnational und national ausgerichtet war und die damit zusammenhängenden Identifikationsdiskurse und Debatten um die Deutungshoheit der Gesellschaft. Urs Altermatt zeigt überzeugend, wie der Rückzug der Katholiken in eine Sondergesellschaft die Anpassung an die national-liberale «Leitkultur» der politischen Elite erschwerte. Mit der erfolgreichen Integration in den Bundesstaat erodierten die vormals blühenden katholischen Verbände, Vereine, Institutionen sowie die Presse, die das Milieu gefestigt hatten. Der politische Katholizismus verlor in gewisser Weise seine «Raison d’être» (26).

Das zweite Kapitel eröffnet eine europäische Betrachtung auf das Verhältnis von Religion und Nation im 19. und 20. Jahrhundert. Wie die Nation bildet auch die Religion eine Kommunikationsgemeinschaft. Beide fungierten, so Urs Altermatt, als Identifikationsformel, als eigentliches Deutungssystem, welches Sinnangebote in Form von Ideen, Symbolen und Codes – beispielsweise in Bezug auf Inklusion und Exklusion – zur Verfügung stellte und die Lebenswelt prägte. Besonders zentral war die Religion für die Herausbildung nationaler Identitäten dort, wo sie als integraler Bestandteil der Nation betrachtet wurde. Mit Blick auf den religiösen Fundamentalismus oder Ethnonationalismus der Gegenwart zeigt sich, dass die Instrumentalisierung der Religion durch die Politik nichts von ihrer Brisanz verloren hat. Urs Altermatt systematisiert das komplexe Verhältnis von Katholizismus, Staat und Nation anhand eines Interpretationsmodells und skizziert Länderspezifika und regionale Unterschiede. Hierbei widmet er dem Kanton Tessin eine eingehende Analyse und wird dabei nicht nur dem helvetischen Föderalismus gerecht sondern zeichnet auch eine paradigmatische Entwicklung für die Integration anderssprachiger Minderheiten in einem multikulturellen Nationalstaat nach.

Das dritte, als historischer Abriss vom Sonderbundskrieg bis Mitte des 20. Jahrhunderts konzipierte Kapitel widmet Urs Altermatt dem Kulturkampfparadigma. Er zeigt den Weg der Katholiken ins «Ghetto», die Nutzung moderner Mittel für den antimodernistischen Kampf sowie ihre letztendlich gelingende Integration in den Bundesstaat auf. Der Kampf der Katholisch-Konservativen gegen den Kommunismus, der dem nationalen Konsens entsprach, stellte einen wichtigen letzten Schritt zu dieser Integration dar. Bei den Bundesfeierlichkeiten 1948 zelebrierten die ehemaligen «Sonderbündler» ihre Verbundenheit mit der modernen Schweiz und betonten ihre Verdienste für das Land in der Vergangenheit. Symbolisch abgeschlossen wurde der Integrationsprozess 1973, als der Jesuiten- und Klosterartikel aus der Bundesverfassung gestrichen wurde. In der Folge verloren die Katholiken nicht nur ein gängiges Kulturkampf-Argument, es löste sich auch die ideologische Klammer der katholischen Kommunikationsgesellschaft.

Die katholische Phalanx zeigte sich vermutlich das letzte Mal geschlossen im Protest gegen Rolf Hochhuths Stück «der Stellvertreter», mit welchem dieser 1963 Pius XII. seines Schweigens zum Holocaust anklagte. Dies zeigt Urs Altermatt im vierten Kapitel «Geschichte, Gedächtnis und Kulte», in welchem er sich mit der Erinnerungs- und Geschichtskultur befasst. Er widmet Bruder Klaus, der Bundesfeier von 1891 und den Netzwerken der ultramontanen Eliten je ein Kapitel, um am Ende aufzuzeigen, wie der Papstkult hinterfragt wurde und teilweise in antirömische Affekte umschlug (beispielsweise in der «Haas-Affäre» oder in der jüngsten Diskussion um die Piusbruderschaft). Interessant ist, wie sich zentrale helvetische «Erinnerungsorte» wie sie Niklaus von Flüe oder die Alte Eidgenossenschaft darstellen, in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugleich konfessionalisieren und nationalisieren konnten. Die «Mtamorphose» des Bruder Klaus’ von einer gesamtschweizerischen zur katholischen Identifikationsfigur, seine Instrumentalisierung in Zeiten der Bedrohung und die erneute Umdeutung in der Zeit der Globalisierung kann als Exempel für die Pluralisierung von Erinnerung und Gedächtnis betrachtet werden.

In einem abschliessenden Kapitel «vom Konfessionalismus zur universalen Religion» kommt Urs Altermatt auf die parallel vonstatten gehenden Erosionen von Konfession und Nation im ausgehenden 20. Jahrhundert zu sprechen. Erneut bettet der Autor die schweizerische Entwicklung in einen europäischen Rahmen und skizziert an ihr die langsamen Zerfallsprozesse der einst monolithischen Referenzgrössen. Auf institutioneller Ebene leistete das Zweite Vatikanische Konzil einen wesentlichen Beitrag zur Transformation, zu einer Öffnung und zum Dialog. Auf der gesellschaftlichen Ebene nennt der Autor die sozialen Veränderungen in den «langen sechziger Jahren» und mit ihr die zunehmende Individualisierung als Folge der Konsumgesellschaft als Grund dafür, dass die vormals identitätsstiftende Isolation des Milieukatholizismus endgültig aufbrach. Die ehemals «komplementäre und symbiotische Einheit» (310) von Gedächtnis, Geschichte und Nation löste sich auf. Diesen Wandel könne man, je nach Betrachtungsweise, als Bruch, als Verfallsgeschichte der Sondergesellschaft oder als Neubeginn im Sinne der Pluralisierung des Religiösen betrachten. In zehn konzisen Thesen fasst der Historiker seine Interpretation dieser religiös-kirchlichen Transformation seit den 1960er Jahren nochmals zusammen, bevor er sein umfassendes Werk mit einem Plädoyer für eine universale Erinnerungskultur, begründet am Bespiel der Shoah, beschliesst.

Das vorliegende Buch bietet einen interessanten transnationalen Einblick in die vielschichtigen Verhältnisse von Religion, Staat und Nation in Westeuropa, die anhand verschiedener Fallbeispiele exemplifiziert werden. Die Geschichte des Schweizer Katholizismus’ in all seinen Facetten dient dabei als überzeugende Konkretisierung. An mehreren Stellen des Buches stellt Urs Altermatt zudem Bezüge zu aktuellen Debatten und Fragen her, die zu weiterführenden Recherchen und Reflexionen Anlass geben können. Hilfreich ist dabei auch das fundierte Quellenverzeichnis.

Zitierweise:
Nadine Ritzer: Rezension zu: Urs Altermatt, Konfession, Nation und Rom. Metamorphosen im schweizerischen und europäischen Katholizismus des 19. und 20. Jahrhunderts, Frauenfeld/Stuttgart/Wien, Verlag Huber, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 104, 2010, S. 498-500