L. Gschwend u. a. (Hrsg.): Zwischen Konflikt und Integration

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Titel
Zwischen Konflikt und Integration. Herrschaftsverhältnisse in Landvogteien und Gemeinen Herrschaften (15.–18. Jhd.)


Herausgeber
Gschwend, Lukas; Sutter, Pascale
Reihe
Itinera – Beihefte zur Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte 33
Erschienen
Basel 2012: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
150 S.
Preis
€ 40,50
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Bernd Giesen, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Das aktuelle Beiheft zur Schweizerischen Zeitschrift für Geschichte vereinigt sechs Aufsätze, die die bisher relativ wenig bekannten Herrschaftsstrukturen in den eidgenössischen Landvogteien und Gemeinen Herrschaften in der Zeit vom ausgehenden 15. Jahrhundert bis zum 18. Jahrhundert untersuchen. Hierbei handelt es sich um Untertanengebiete, die einzelne oder mehrere eidgenössische Orte gemeinsam durch Kauf oder Kriegszüge erworben hatten. Wie man im Vorwort der Herausgeber Lukas Gschwend und Pascale Sutter erfährt, knüpfen die in diesem Band versammelten Forschungsbeiträge an einschlägige rechtshistorische Quelleneditionsprojekte an.

André Holenstein unterstreicht in seinem einführenden Überblicksartikel die Bedeutung der Untertanengebiete der einzelnen Orte und Gemeinen Herrschaften für das spezifische gesamteidgenössische Herrschaftsgefüge, das trotz zahlreicher Krisen und Konflikte in seinen Grundzügen bis zum Ende des Ancien Régime erhalten blieb. Die gemeinschaftlich erworbenen Untertanengebiete zwangen die eidgenössischen Orte zu ständiger politischer Zusammenarbeit, seit der Reformation auch über konfessionelle Gräben hinweg. Die Kooperation erfolgte insbesondere auf der sogenannten Tagsatzung, dem eidgenössischen Gesandtenkongress, dessen Geschäfte tatsächlich zu 35 Prozent mit der Verwaltung der Untertanengebiete zusammenhingen. Holenstein bezieht sich hier auf die genaueren Untersuchungen von Andreas Würgler, dessen Habilitationsschrift über die Tagsatzung in diesem Jahre erscheinen soll und mit Spannung erwartet werden darf.1

Alle anderen Beiträge widmen sich wesentlich detaillierter den Herrschaftsverhältnissen in einzelnen Untertanengebieten. Werner Kuster beschäftigt sich mit den frühneuzeitlichen Herrschaftsstrukturen im St. Galler Rheintal. Ein zentrales politisches Steuerungsmittel bestand hier in dem sogenannten Verspruchsrecht, einem die Einheimischen privilegierenden Erwerbs- beziehungsweise Rückkaufsrecht, das im Rheintal nicht nur beim Verkauf von Liegenschaften, sondern auch bei verschiedenen Waren zur Anwendung kam. Kusters Beitrag begnügt sich nicht mit der Beschreibung der komplexen Rechtspraxis, sondern beleuchtet auch die sozioökonomischen und politischen Implikationen dieses Rechts, das vor dem Hintergrund einer zunehmenden Angst vor dem Ausverkauf der Region durch reiche Zugezogene entstand. Vor allem wohlhabende Bürger aus St. Gallen strebten danach, im Rheintal neue prestigeträchtige Wohnsitze aufzubauen. Außerdem fürchteten sich die einheimischen Bewohner des Tals vor der zunehmenden Einflussnahme der Städter in wichtigen Wirtschaftszweigen wie zum Beispiel dem Weinbau. Das Verspruchsrecht konnte diese Entwicklungen aber nur teilweise stoppen. Vor allem in Krisenzeiten führten Korruption und persönliche Verflechtungen eines Teils der Dorfeliten mit den auswärtigen Akteuren zu einer regelrechten Aushebelung des Rechtes. Hinzu kam der Missbrauch des Rechtes für andere, beispielsweise konfessionspolitische Interessen. Dies alles zeichnet Kuster in seinem Beitrag ganz überzeugend und im Detail nach.

Andreas Ineichen widmet sich in seinem ebenfalls sehr überzeugenden Beitrag den Herrschaftsverhältnissen in der luzernischen Landvogtei Entlebuch bis zum Bauernkrieg von 1653. Im Kontext der Italienkriege kam es hier 1513–1515 zu größeren Unruhen, als publik wurde, dass einige Luzerner Ratsherren Pensionen aus Frankreich bezogen, obwohl die Eidgenossenschaft offiziell den Papst, Kaiser und Herzog von Mailand unterstützte. Weitere Konflikte zwischen der städtischen Obrigkeit und den ländlichen Untertanen entzündeten sich an der Einführung neuer Steuern. So sollte in den Jahrzehnten vor dem Bauernkrieg mit einer Abgabe auf das auswärtige Sömmerungsvieh der bescheidene Lohn des Landvogts aufgebessert und mit einer weiteren Steuer der Viehexport eingeschränkt werden, um die Versorgungssituation in der Stadt zu verbessern. Ineichens detaillierte Analyse kommt zu dem Schluss, dass der politische Entscheidungsprozess und die Gesetzgebung in Luzern insgesamt „amorph und wenig formalisiert“ (S. 71) waren. Dem Luzerner Rat gelang es zu keiner Zeit, eine souveräne Normsetzung zu verwirklichen. Die Untertanen im Entlebuch pochten ihrerseits immer wieder auf ihr altes, aus dem Spätmittelalter überliefertes Recht und konnten, zumal ein allgemein anerkanntes Verfahren zur Schaffung eines neues Rechtes fehlte, in unterschiedlichem Maße auf die Gesetzgebung Einfluss nehmen. Eine institutionalisierte Form der Herrschaftsteilhabe erreichten sie aber nicht.

Den Herrschaftsverhältnissen im Sarganserland widmen sich gleich zwei Beiträge. Matthias Zimmermann beschreibt, soweit es die schwierige Quellenlage zulässt, die Frühzeit der Landvogtei Sargans (1483–1500). Diese ging aus dem Kauf der gleichnamigen Grafschaft und der Eroberung der habsburgischen Herrschaften Walenstadt, Freudenberg und Nidberg hervor, deren Strukturen in vieler Hinsicht fortbestanden. Neben der Eidgenossenschaft rangen im Sarganserland das Kloster Pfäfers und ein äußerst komplexes Netz von Grundherren um Nutzungs- und Gerichtsrechte sowie steuerliche Einnahmen. Bemerkenswert sind die relativ weitgehenden Befugnisse der Dorfgerichte, während der Einfluss des Landvogts bei Rechtsstreitigkeiten erstaunlich beschränkt blieb und eidgenössische Schiedsgerichte faktisch die höchste landesherrschaftliche Rechtsinstanz darstellten.

Sibylle Malamud bestätigt die Ausführungen von Zimmermann. Ihr Beitrag zeigt, dass die lokalen Selbstverwaltungsformen und die relativ schwache Stellung des Sarganser Landvogts, dem faktisch allein Repräsentationsaufgaben und eine Kontroll- und Überwachungsfunktion zukamen, bis zum Ende des Ancien Régime erhalten blieben. Plausibel ist ihre These, dass der häufige Wechsel der Landvögte, die Konkurrenz und gegenseitige Kontrolle der regierenden Orte sowie der kaum entwickelte Verwaltungsapparat stärkere Eingriffe in die älteren Strukturen verhinderten. Konflikte entstanden in Sargans vor allem im Kontext konfessioneller Spannungen, konnten aber in der Regel friedlich gelöst werden. Zu größeren Unruhen oder kriegerischen Auseinandersetzungen kam es zu keinem Zeitpunkt, was Malamud zu einem guten Teil in der spezifischen, eidgenössischen Herrschafts- und Verwaltungspraxis begründet sieht, wobei diese bei sich anbahnenden Unruhen durchaus auch härtere Sofortmaßnahmen einschloss. Die spannende Frage nach den Gründen für die relativ stabilen Herrschaftsverhältnisse im Sarganserland wird aber letztlich nur angeschnitten. Etwas bedauerlich ist, dass Malamud die wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung der Region in ihrem Beitrag gänzlich unberücksichtigt lässt. Gerade auch Kusters Beitrag zeigt, wie stark die ökonomischen Strukturen die regionalen Herrschaftsstrukturen beeinflussen konnten.

Marco Schnyder widmet sich in seinem Beitrag über die eidgenössische Herrschaftspraxis in den südlich der Alpen gelegenen Landvogteien im 17. und 18. Jahrhundert vor allem den sozialen Verflechtungen zwischen den Tessiner Eliten und den regierenden Familien der Eidgenossenschaft. Den Mitgliedern des sogenannten Magnifico Officio kam hier eine besonders wichtige Funktion zu, weil sie das lokale Recht kannten und die deutsche Sprache beherrschten. Schnyder unterstreicht, dass er mit seiner Studie weitgehend unbekanntes Terrain sondiert und es noch weiterer Untersuchungen zu den Tessiner Landvogteien bedarf. Tatsächlich bietet seine Verflechtungsanalyse bereits einen sehr guten Einblick in die regionalen Herrschaftsverhältnisse, die sich ähnlich wie im Sarganserland durch eine bemerkenswert hohe Stabilität auszeichnen.

Die Lektüre dieses in vieler Hinsicht Neuland betretenden Sammelbandes sei mindestens allen denjenigen empfohlen, die sich für die politische Kultur der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft interessieren. Die empirisch bestens abgestützten Forschungsbeiträge machen die Bedeutung lokaler Herrschaftsformen in den Untertanengebieten deutlich und leisten einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis des komplexen politischen Systems der Alten Eidgenossenschaft. Manche noch nicht ganz überzeugend behandelte Fragen regen zu weiteren Untersuchungen in diesem spannenden Forschungsfeld an. Neben dem stärkeren Einbezug von wirtschaftshistorischen Aspekten ist etwa an systematischere Vergleichsforschungen im eidgenössischen Raum oder auch darüber hinaus zu denken. Die in diesem Band vereinigten Studien stellen hierfür eine hervorragende Ausgangsbasis dar.

Anmerkung:
1 Andreas Würgler, Die Tagsatzung der Eidgenossen. Politik, Kommunikation und Symbolik einer repräsentativen Institution im europäischen Kontext 1470–1798, Epfendorf 2013 (im Erscheinen).

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Veröffentlicht am
05.06.2013
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