J. Montandon: Gemeinde und Schule

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Titel
Gemeinde und Schule. Determinanten lokaler Schulwirklichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts anhand der bernischen Schulumfrage von 1806


Autor(en)
Montandon, Jens
Reihe
Berner Forschungen zur Regionalgeschichte
Erschienen
Nordhausen 2001: Verlag Traugott Bautz
Anzahl Seiten
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Lukas Boser, Abteilung Allgemeine und Historische Pädagogik, Universität Bern

In den letzten Jahren hat die Schulgeschichtsforschung in der Schweiz einen äusserst reichhaltigen Quellenschatz (wieder-)entdeckt, der lange Jahrzehnte in den Archiven schlummerte und höchstens partiell von einzelnen interessierten Personen gehoben und bearbeitet worden war. Die Rede ist von verschiedenen kantonalen (und im Falle der sogenannten Stapfer-Enquête sogar nationalen) Schulumfragen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, mittels derer sich die Verantwortlichen ein Bild über den Zustand der Volksbeschulung zu verschaffen suchten. Lange Zeit wurden diese Umfragen von der Forschung wenig beachtet, obwohl es sich dabei um eine höchst umfangreiche Informationsquelle über vergangene Schulrealitäten handelt, die es ermöglicht, neue Erkenntnisse über die Entwicklung des schweizerischen Volksschulsystems zu gewinnen. Die Geschichtswissenschaft beschäftigte sich mehrheitlich mit Universitätsgeschichte und der historische Zweig der Erziehungswissenschaft konzentrierte sich hauptsächlich auf grosse Pädagoginnen und Pädagogen oder zentrale erzieherische Ideen, Ideale und Konzepte. Die Untersuchung des historischen Schulalltags und seiner Kontexte blieb somit lange unbeachtet und geriet kaum in den Fokus von Historikerinnen und Historikern.

In einer, nun als Buch vorliegenden, Arbeit zu einer Schulumfrage aus dem Kanton Bern von 1806 hat Jens Montandon sich der Auswertung dieses Quellenschatzes angenommen und er zeigt dabei, wie lohnenswert die Auseinandersetzung mit diesen Quellen sein kann.

Montandon wertet die überlieferten, von den Berner Landpfarrern verfassten Antworten auf die Umfrage aus, mit dem Ziel, «aus der grossen Datenmenge der 1806er Umfrage die Parameter herauszufiltern, die für das Funktionieren einer Schule vorteilhaft respektive unvorteilhaft waren» (S. 281). Oder anders gesagt, er fragt danach, welche kontextuellen Bedingungen das Vorhandensein von «guten» Schulen auf der Berner Landschaft beförderten und welche nicht. Dabei ist sich Montandon bewusst, dass es schwer ist, Kriterien für die Bemessung der Qualität von Schule zu benennen, denn Beurteilung einer Schule als «gut» respektive «schlecht» variiert je nach historischem Kontext und Standpunkt des Urteilenden. Da aber in der Umfrage von 1806 explizit danach gefragt wurde, wie viele Kinder gut lesen, schreiben und rechnen lernten, gelangt Montandon dennoch zu einigen grundsätzlichen Feststellungen. Insbesondere ist es ihm möglich, über diese drei Fächer und die entsprechenden Schulmaterialien – die zusammen den Kern des modernen Curriculums ausmachen – festzustellen, wie gut die Schulen den Anforderungen der anbrechenden Moderne gerecht wurden, als nicht mehr nur nach religiöser Bildung verlangt wurde, sondern auch nach der Vermittlung grundlegender Techniken zur Teilhabe am bürgerlichen Leben und an der öffentlichen Kommunikation.

Die Auswertungen der Umfrage bringen einige bemerkenswerte Erkenntnisse an den Tag. So widerspricht Montandon den verbreiteten Annahmen von geringem Schulbesuch und tiefer Alphabetisierung im Kanton Bern. «Es scheint, als seien in Bern nahezu alle schulfähigen Kinder eingeschult worden» (S. 134), was zur Folge hatte, «dass die überwätigende Mehrheit» der Kinder lesen und eine «beachtliche Anzahl» schreiben lernte (S. 283).

Anders als heute, wo Schulentwicklung oft in Form von zentral gesteuerten, allgemeinverbindlichen Reformen durchgeführt werden soll, wurden die Schulen zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts vor allem von lokalen Bedingungen beeinflusst. Neben einzelnen herausragenden Schulen identifiziert Montandon im Kanton Bern auch eigentliche «Bildungsräume», in welchen der Volksschulunterricht besonders gut ausgebaut war. In diesem Zusammenhang stellt er die Frage nach den Eigenheiten dieser Räume und deren Einflüssen auf die Schulen. Die Ausweitung des Curriculums auf moderne Lehrstoffe wie Mathematik und die Einführung moderner Lehrmittel wie beispielsweise Rochows Kinderfreund traten vor allem dort auf, wo schulexterne Faktoren wie «Zentralität», «Verkehrsanbindung» oder «Urbanisierung» die entsprechenden Voraussetzungen schufen. Das Simmental, ein wichtiger Verkehrs- und Handelsweg, war ein solches Gebiet, in welchem «verhältnismässig viele Schulkinder schreiben und rechnen konnten – und dies auch noch ‹besser› taten als Schulkinder anderer Regionen» (S. 285). Andere Gegenden, wie etwa das Schwarzenburgerland, schnitten im Vergleich mit solchen Bildungsräumen schlecht ab, was Montandon allerdings weniger einem grundsätzlichen Desinteresse an Bildung zuschreibt als vielmehr dem Fehlen von unterstützenden Faktoren und der Armut, die einen Ausbau der Volksschulen und insbesondere die Anstellung und Besoldung guter Lehrer und die Anschaffung neuer Lehrmittel nicht zuliessen.

Montandons Darstellungen zeichnen das Bild einer dynamischen Berner (Schul-) Landschaft, die beeinflusst wurde durch «[b]edeutsame, die Zeit prägende Ideen, Veränderungen und Innovationen in Wirtschaft, Politik und Kultur» (S. 34).

Das Buch ist lesenswert sowohl für ein wissenschaftliches Publikum als auch für die interessierte Öffentlichkeit, dies dank vieler Beispiele, Zitate und Analogien zu aktuellen Fragen und Problemen rund um das Thema Schule. Der Einschätzung Montandons, seine Arbeit bleibe im Einzelnen «Stückwerk» und sie sei «ein Rohling im noch etwas kargen Steinbruch der schweizerischen Schulgeschichte» (S. 35), ist entgegenzuhalten, dass sie – zusammen mit anderen ähnlichen Arbeiten – einen wichtigen Beitrag leistet zum besseren Verständnis des Werdens der Volksschule und des modernen Curriculums.

Redaktion
Veröffentlicht am
10.01.2013
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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