H. Stadtland (Hg.): «Friede auf Erden»

Cover
Titel
«Friede auf Erden». Religiöse Semantiken und Konzepte des Friedens im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Stadtland, Helke
Reihe
Frieden und Krieg. Beiträge zur historischen Friedensforschung 12
Erschienen
Essen 2009: Klartext Verlag
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Siegfried Weichlein, Departement Historische Wissenschaften - Zeitgeschichte, Universität Freiburg (Schweiz)

Der Zusammenhang von Religion und Gewalt hat seit 9/11 eine enorme wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden. Zahlreiche Veröffentlichungen zeugen in der Zwischenzeit von dem grossen Interesse an diesem Thema. Der vorliegende Band erweitert die Thematik, indem er Religion nicht nur auf Krieg und Gewalt, sondern auch auf Friedenskonzepte hin untersucht. Er ist aus einer Tagung des Arbeitskreises «Historische Friedensforschung » zur «Religiösen Semantik des Friedens. Diskurse und Netzwerke im 20. Jahrhundert» im November 2006 entstanden. Die Herausgeberin Helke Stadtland (Bochum) führt in ihrem einleitenden programmatischen Aufsatz aus, dass religiöse Friedenssemantiken eine Beziehung zwischen dem religiösen und dem nichtreligiösen Feld herstellen. Beide Felder sind historisch und konfessionell unterschiedlich stark gegeneinander abgegrenzt. Gleichsam in einer Gegenprobe zu den Arbeiten über Religion und Gewalt untersucht dieser Band den Einfluss religiöser Friedenssemantiken auf Friedensbewegungen in einem weiten Sinn. Bisher wurden die Friedensbewegungen zumeist unter säkularen Vorzeichen untersucht. Religion tauchte nur in einzelnen Organisationen oder persönlichen Biographien, nicht aber als struktureller Faktor auch in nichtreligiösen Organisationen auf. Um den Einfluss der Religion gleichsam im Rücken der säkularen Friedensbewegungen zu untersuchen, bieten sich die religiöse Semantik und die Begriffsgeschichte an.

Die Gliederung dieses Bandes ist chronologisch. Im Zeitalter der Weltkriege (II) sind die Beiträge von Jörg Seiler über die marianische Semantik, von Marie-Emmanuelle Reytier über die Weimarer Katholikentage, von Alf Christophersen über die Weimarer Lutherrenaissance, von Till Kössler über den spanischen Katholizismus im Bürgerkrieg und von Christian Scharnefsky über Formen und Begründungen der Kriegsdienstverweigerung angesiedelt. Im zeitlichen Rahmen des Kalten Krieges (III) argumentieren Janosch Steuwer und Jürgen Mittag über die Bundespräsidenten und Bundeskanzler der SPD, Holger Nehring über den Atomwaffenprotest in Westdeutschland und Grossbritannien, Anke Silomon über die kirchliche Friedensbewegung der DDR, Katharina Kunter über den ökumenischen Rat der Kirchen und Ulrich Wenner über die «Initiative Kirche von unten». Dem vorangestellt ist der besonders anregende Überblick des Bochumer Religionswissenschaftlers Volkhard Krech über die nachfolgenden Beiträge, die er systematisch diskutiert und damit die Einheit des Bandes verdeutlicht. Er lehnt die Zuordnung von Krieg und Frieden zu bestimmten Religionen ab, womit er sich erkennbar von den Thesen Jan Assmanns absetzt. Alle Religionen enthalten sowohl gewalt- als auch friedensproduktive Potentiale, die semantisch gespeichert sind. Gewalt schüren die Vorstellung des apokalyptischen Endkampfes zwischen Gut und Böse in bestimmten Strömungen des Judentums, des Christentums und des Islams und das Kampfethos in der Krishna-Tradition, den germanischen Religionen oder im Islam. Friedensproduktiv sind dagegen das Ahimsa-Prinzip im Hinduismus, Buddhismus und Jainismus, die Gewaltfreiheit Laotses und die Friedensutopie der Hebräischen Bibel und der Bergpredigt. «Religiöse Semantik birgt sowohl friedens- als auch gewaltfördernde Potentiale.» (59)

Für die Friedens- und Gewaltproduktivität ist das spezifische Verhältnis der Religion zur Politik entscheidend. Religion kann Politik sowohl legitimieren als auch delegitimieren. Beides kann sowohl Militanz als auch Friedensbereitschaft fördern. Weiterführend für die Forschung könnte in diesem Band die vierfache Unterscheidung sein, die Krech für das Verhältnis religiöser und politischer Kommunikation einführt. Neben der genuinen religiösen und von der Politik getrennten Kommunikation gibt es – zweitens – Interferenzen zwischen dem religiösen und dem politischen Feld. Religiöse Semantik kann sich auf politische Sachverhalte, politische Kommunikation auf religiöse Sachverhalte beziehen. Die dritte Form ist die Polykontextualität. Eine Situation wird von religiösen und politischen Kontexten zugleich bestimmt. Der Kontext bestimmt, welche Eigenlogik die bestimmende ist. Gustav Heinemann interpretierte noch seine persönlichen Entscheidungen in der Politik religiös (Detlef Bald). Viertens gibt es – was bisher am bekanntesten sein dürfte – die Sakralisierung der Politik. Politische Kontexte laden sich mit religiösen Semantiken auf, ohne deswegen religiös zu werden. Krech wendet sich damit von der Begrifflichkeit der «politischen Religionen» ab, die auf Eric Voegelin zurückgeht. Sowohl die Forschung zur religiösen Semantik als auch die Friedensforschung erhält durch diesen Band wichtige inhaltliche und methodische Anregungen.

Zitierweise:
Siegfried Weichlein: Rezension zu: Helke Stadtland (Hg.), «Friede auf Erden». Religiöse Semantiken und Konzepte des Friedens im 20. Jahrhundert (=Frieden und Krieg. Beiträge zur historischen Friedensforschung Bd. 12), Essen, Klartext-Verlag, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 363-364.