A. Mattioli: «Viva Mussolini!»

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Titel
«Viva Mussolini!». Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis


Autor(en)
Mattioli, Aram
Erschienen
Paderborn 2010: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
201 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Mattiolis hochaktuelle Studie ist zwar der jüngsten erinnerungspolitischen Entwicklung in Italien bis Juni 2009 gewidmet, sie diskutiert im Grund aber gleich drei Epochen der italienischen Geschichte: einmal die Zeit der Mussolini-Diktatur (das «ventennio nero»), dann die Nachkriegsjahre mit dem Mythos des antifaschistischen Widerstands und schliesslich die jüngste um 1994 einsetzende Phase der Verharmlosung der faschistischen Vergangenheit. Die erste Phase steht hier nicht im Zentrum, sie muss aber gerade wegen der jüngsten Relativierungen mit ein paar deutlichen Strichen ebenfalls in Erinnerung gerufen und als situiert werden. Mattioli tut dies beispielweise mit der abstrakten Einstufung dieses Regimes als «kollektive Gerwaltausübung» und mit dem konkreten beispielhaften Hinweis auf den Applaus, mit dem Mussolini auf die Terrorbombardierung Barcelonas 1938 durch die italienische Luftwaffe reagiert hat.

Während der mittleren Phase dominierten der Resistenza-Mythos und die Meistererzählung der Selbstbefreiung. Die Generalamnestie von 1946 bewahrte zwar vor Selbstzerfleischung, sie kam aber einer Selbstabsolution gleich und verhinderte eine ernsthafte Aufarbeitung der Vergangenheit. Diese Voraussetzungen erleichterten die in den 1990er Jahren stark werdenden Revisionstendenzen. In der dritten Phase verstärkten sich diese Tendenzen schliesslich zu einem Breitenphänomen.

Mattioli identifiziert mit seiner Analyse des revisionistischen Erinnerungsdiskurses acht Elemente: 1. die Verniedlichung des Mussoliniregimes als Rosenwasserdiktatur, 2. die «Vermenschlichung» des Diktators Mussolini, 3. die Verharmlosung des italienischen Kolonialismus, 4. die Verkennung des auch in Italien verbreiteten Rassismus, 5. die einseitige Interpretation der Resistenza als Bewegung eines revolutionären Sozialismus, 6. die Aufwertung des Regimes von Salò als Bollwerk gegen den Kommunismus, 7. die Betonung der italienischen Opferrolle infolge der deutschen Besatzung und der unter Tito durchgeführten ethnischen Säuberungen und 8. die Gleichsetzung der Gefolgsleute des verbrecherischen Regimes und ihrer Gegner als gleiche Kämpfer für das Vaterland, was zu einer Aufwertung der Faschisten führte.

Doch ausgerechnet Italien, das während beinahe eines halben Jahrhunderts vom Stolz auf die antifaschistische Tradition geprägt war, leistete sich als bisher einziges europäisches Land 1994 eine Regierung mit Beteiligung einer neofaschistischen Partei. Man muss sich fragen, inwiefern die installierte Ideologie des Antifaschismus eine günstige Voraussetzung für die Agitation der Philofaschisten schuf. Von speziellem Interesse ist die zwischen der zweiten und der dritten Phase aufscheinende Übergangsphase der 1980er Jahre. Hier erscheinen zwei Akteure als besonders wichtig: der Spitzenpolitiker Bettino Craxi und der Spitzenhistoriker Renzo de Felice. Craxi, zu dessen Entourage auch Berlusconi gehörte, leistete 1983/85 einen erheblichen Beitrag zur Aufwertung der Neofaschisten, indem er sie in die Regierungskonsultationen einbezog. Mattioli (S. 143): Seit der Sozialist Craxi die Ambition verfolgte, Italien nach französischem Vorbild in eine Präsidialrepublik umzuwandeln, hat sich das Denken über die faschistische Vergangenheit verwandelt. Und de Felice lieferte als angesehener Historiker etwa zur gleichen Zeit (1987/88) die wissenschaftliche Vorlage für eine politische Verharmlosung der Mussolinidiktatur und empfahl über die Tagespublizistik eine «Normalisierung» im Verhältnis zu den Neofaschisten und die Aufhebung der antifaschistischen Strafbestimmungen. In dieser Zeit (1984/85) tauchten auch die ersten den Faschismus verharmlosenden Spielfilme im Fernsehprogramm auf und wurde in der Provinz Latium (1986) ein Museum für den Kriegsverbrecher Graziani geschaffen. In jenen Jahren trafen verschiedene gleichgerichtete Manifestationen zusammen, von denen es schwer zu sagen ist, wer nun welche stimuliert hat. Berlusconi, dem Mattioli explizit attestiert, dass er nicht als Faschist einzustufen sei (S. 145), nutzte diese Ausgangslage, er spielte mit gezielten Tabubrüchen und bediente sich der Neo- und Postfaschisten als Steigbügelhalter und wertete diese damit zugleich auf.

Mattioli kommt das doppelte Verdienst zu, einerseits die Verharmlosungen des Faschismus in der Berlusconi-Zeit quellengestützt zu thematisieren und anderseits in exemplarischer Weise die gesellschaftspolitische Bedeutung eines kritischen Geschichtsbewusstseins aufzuzeigen. Mattiolis überzeugender Befund: «In Italien fehlt eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen abgestützte Erinnerungskultur. Eine solche würde kaum im Interesse der Rechten liegen» (S. 150). Dieser Befund ist umso bedenklicher, als sich in Italien ausgerechnet eine Phase des faschismusfreundlichen Revisionismus gegenläufig breit machte, da in anderen Ländern, in Frankreich, Belgien, Österreich, Holland, Skandinavien und sogar in der Schweiz, die Bereitschaft aufkam, sich mit den dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Aram Mattioli: «Viva Mussolini!». Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Paderborn, Schöningh Verlag, 2010. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 4, 2010, S. 509-510.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 4, 2010, S. 509-510.

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