T. Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart

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Titel
Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart.


Autor(en)
Judt, Tony
Erschienen
München 2006: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
1024 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Gerhard Altmann, Korb

Europa steht an einem Scheideweg. Nie zuvor in seiner Geschichte konnte der Alte Kontinent auf eine so verheissungsvolle Zukunft hoffen. Befriedet im Innern, mit hoher Attraktivität nach aussen, ökonomisch potent, sozial fortschrittlich – kurzum: Europa hat alles, was es braucht, um im Jahr 2099 auf ein europäisches Jahrhundert zurückblicken zu können. Dennoch rühren immer wieder Selbstzweifel an die europäische Idee. Dies hängt zu einem Gutteil mit der Europäischen Union zusammen. Der politökonomische Staatenverbund droht sich zu Tode zu siegen. Nach dem Untergang des Kommunismus war es nur eine Frage der Zeit, ehe die einstigen Satelliten Moskaus Einlass begehren würden. Die Erweiterung der EU musste aber zwangsläufig auf Kosten deren Vertiefung gehen. Und spätestens seit dem Irakkrieg liegen die Sollbruchstellen des Brüsseler Bündnisses offen zutage. Als komplexe Umverteilungsmaschinerie an den Grenzen des Vernünftigen angelangt, als Konsensmechanismus mit gravierenden Meinungsverschiedenheiten konfrontiert, kann die EU drängende Reformen nicht länger aufschieben, will sie nicht weiter an Glaubwürdigkeit bei den Bürgerinnen und Bürgern der Mitgliedsstaaten einbüssen.

Freilich nehmen sich diese Irritationen geradezu randständig aus, vergleicht man sie mit der Ausgangssituation Europas am Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie Tony Judt in seiner monumentalen Studie zur Geschichte Europas seit 1945 darlegt, schien die Zukunft des Alten Kontinents nach dreissig Jahre währenden Konvulsionen endgültig der Vergangenheit anzugehören. Hitlers Krieg hatte eine soziale Revolution bewirkt, welche die Menschen einander – unfreiwillig – näher brachte. Vor allem aber hatte er Europa gespalten und die Flagge des Stalinismus im Herzen des Kontinents aufgepflanzt. Die anfangs durchaus zahlreichen Claqueure des Sowjetimperiums in den westlichen Demokratien übersahen geflissentlich, wie die kommunistischen Machthaber einen «permanenten unerklärten Krieg gegen die eigene Bevölkerung» (S. 226) führten. Die brachiale ökonomische Gleichschaltung mit den gemutmassten Bedürfnissen des imperialen Zentrums und die in Schauprozessen kulminierende Hatz auf meist nicht weniger gemutmasste Feinde des Systems beraubten die Menschen jenseits des Eisernen Vorhangs ganz basaler Lebenschancen.

Der Westen indes wurde von alternden, pragmatischen Staatsmännern, die keine unnötigen Fragen an die jüngste Geschichte stellten, in die trente glorieuses (Fourastié) geführt. Während der Ostblock Mitte der Fünfziger seinen Abstieg in das «jahrzehntelange Dämmerlicht von Stagnation, Korruption und Zynismus» (S. 360) begann, bildete sich in Westeuropa die Keimzelle der nachmaligen EU. Judt spart nicht mit Ironie, wenn er die ihm zufolge von Bonn finanzierte und Paris gesteuerte EWG in den Kontinuitätslinien des napoleonischen Erbes verortet. Doch die meisten Gemeinschaftseuropäer genossen es, erstmals über ein verfügbares Einkommen jenseits barer Subsistenz zu verfügen und überliessen in postideologischer Selbstgenügsamkeit alles Weitere den Visionären in Brüssel.

Judts besonderes Augenmerk gilt der intellectual history Europas. Dank stupender Literaturkenntnis und einer Respekt heischenden analytischen Klarsicht vermag er die Strömungen der Zeit messerscharf zu sezieren und in die grossen Zusammenhänge der Epoche einzubetten. Sein Porträt etwa des Linksradikalismus in der postfaschistischen Gesellschaft Westdeutschlands ist ein Lehrstück für alle, die dem Phänomen «68» mit wohlfeilen Deutungen zu Leibe rücken. Judt zeigt, wie die Linke einen deutschen Opfermythos bediente, der sie auf eine Stufe mit den Verfolgten des Naziregimes stellte und mithin nicht dazu angetan war, die Anfang der sechziger Jahre mühsam in Gang kommende Auseinandersetzung mit dem Holocaust auf ein solides gesellschaftliches Fundament zu bauen. Ohnehin wurde das Gemeinsame Haus Europa in Ost und West ganz wesentlich über den «totgeschwiegenen Erinnerungen einer gestohlenen Vergangenheit» (S. 708) errichtet. Wie ein roter Faden zieht sich dieses kollektive Beschweigen von Kollaboration, durchwachsener Résistance und antisemitischen Traditionen durch Judts Buch. Erst nach «Gorbatschows Revolution» (S. 728) brach sich beispielsweise in Frankreich eine tiefere Wahrhaftigkeit der eigenen Geschichte gegenüber Bahn, während gleichzeitig konkurrierende lieux de mémoire die erweiterte europäische Wertegemeinschaft vor neue Herausforderungen stellten. Auch auf diesem Terrain ist die EU noch weit vom Ende der Geschichte entfernt.

Judts Studie vereint mehrere Vorzüge. Zum einen lässt sie auch jenen eher peripheren Gesellschaften Ost- wie Westeuropas Gerechtigkeit widerfahren, die bei überblicksartigen Kompendien meist auf der Strecke bleiben. Zum anderen verknüpft Judt sozial-, wirtschafts- und politikgeschichtliche Ansätze kunstvoll mit den Erkenntnissen einer methodisch geläuterten intellectual history und entwirft so das beeindruckende Panorama eines facettenreichen Kontinents. Schliesslich schreckt Judt nicht vor pointierten Wertungen zurück und regt mithin zum Widerspruch und zum Weiterdenken an – was Europa durchaus zur Selbstaufklärung gereichen sollte. Kurzum: Judts Buch ist ein Meilenstein moderner Geschichtsschreibung.

Zitierweise:
Gerhard Altmann: Rezension zu Tony Judt: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart. München/Wien, Carl Hanser Verlag, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 4, 2007, S. 499-501.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 4, 2007, S. 499-501.

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