Y. Zimmermann (Hrsg.): Schaufenster Schweiz

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Titel
Schaufenster Schweiz. Dokumentarische Gebrauchsfilme 1896–1964


Herausgeber
Zimmermann, Yvonne
Erschienen
Zürich 2011: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
580 S.
Preis
€ 58,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Kay Hoffmann, Haus des Dokumentarfilms, Stuttgart

Die Film- und Medienwissenschaft beschäftigt sich erst seit Kurzem mit der Gattung des Gebrauchsfilms. Darunter werden dokumentarische Filme verstanden, die als Industrie-, Image-, Lehr- und Unterrichtsfilm in Auftragsproduktion entstanden sind. „Sie werden von Auftraggebern als zweckbestimmte (audio-)visuelle Kommunikationsmittel verwendet, die klar definierte Ziele verfolgen und sich an ein spezifisches Publikum richten. Gebrauchsfilme sind primär weder künstlerische Produkte noch kommerzielle Waren, sondern mediale Lenkungsinstrumente, die ihren Dienst dann getan haben, wenn ihre Botschaft beim Publikum ‚ankommt‘, sprich die Zielgruppe erreicht und deren Verhalten im Sinn der Auftraggeber beeinflusst“ wird (S. 37). In Deutschland wurde 2004 an der Ruhr-Universität Bochum weltweit der erste Lehrstuhl zum Industriefilm eingerichtet, nicht von ungefähr gestiftet von der Krupp-Stiftung. Er war bis 2011 mit Prof. Dr. Vinzenz Hediger besetzt, der mit seinem Mitarbeiter Patrick Vonderau wichtige Publikationen zum Thema Gebrauchsfilm veröffentlicht hat. Seitdem hat dieses Thema eine filmhistorische und medientheoretische Bedeutung bekommen, die auch methodische und definitorische Diskussionen ausgelöst hat.

Der von Yvonne Zimmermann herausgegebene Band zur dokumentarischen Filmproduktion in der Schweiz vor 1964 schließt an diese Diskussionen an, geht jedoch wesentlich radikaler damit um als bisherige Veröffentlichungen. Wurde der Gebrauchsfilm bisher vor allem als ein Subgenre des Dokumentarischen erörtert, so stellt diese Publikation den Gebrauchsfilm in den Mittelpunkt der Analyse. Der abendfüllende Dokumentarfilm der Schweiz wird komplett außen vor gelassen. Das Buch präsentiert die Ergebnisse des vom Schweizer Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekts „Ansichten und Einstellungen: Zur Geschichte des dokumentarischen Films in der Schweiz“. Für die drei Autoren, neben Zimmermann die beiden Forscher Pierre-Emmanuel Jacques und Anita Gertiser, ist der Dokumentarfilm der Schweiz auf eine Geschichte des Gebrauchsfilms zu reduzieren. Zu dieser Perspektive gehört Mut, doch wird sie durch zahlreiche neue Erkenntnisse belohnt. Schaut man sich die Geschichte des dokumentarischen Films international an, so ist zu konstatieren, dass es sich meist um Auftragswerke handelte – einschließlich der Arbeiten von Regisseuren wie John Grierson, Walter Ruttmann oder Joris Ivens. Der Begriff des Gebrauchsfilms wurde in der Schweiz übrigens spätestens seit den 1950er-Jahren benutzt, ohne dass er zunächst in der Filmwissenschaft aufgegriffen wurde.

Es ist auch eine Positionierung gegen den Autorenfilm, der die bisherige Filmgeschichtsschreibung bestimmte. In der Schweiz begann die Produktion des ‚neuen‘ Schweizer Films erst in den 1960er-Jahren mit der Einrichtung der Filmförderung (1963). Es gab dann publizistische Vorbehalte gegen den Auftragsfilm, bei dem der Autor geopfert werde und sich unterordnen müsse. Ein solches Vorurteil übersieht die Freiheiten, die einige Auftraggeber den Kreativen gelassen haben. Die Förderung gab es zunächst nicht für Spielfilme, sondern nur für Dokumentar-, Kultur- und Erziehungsfilme.

Außerdem stehen in dieser Veröffentlichung nicht nur die im Kino als Vorfilm gezeigten dokumentarischen Produktionen im Zentrum, sondern vor allem solche, die nicht-kommerziell ausgewertet worden sind, und etwa auf Messen, in Ausstellungen, in Vereinsheimen und Gaststätten, auf Kreuzfahrtschiffen und in Schulen liefen. „Ziel ist eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte des dokumentarischen Films in seinen Produktions-, Verwendungs- und Adressierungszusammenhängen des Tourismus, der Industrie, der Volksbildung und der Schule.“ (S. 16) Dies macht diese Publikation interessant für Leser- und Forscherkreise weit über die Filmhistoriker hinaus. Denn mit den Gebrauchsfilmen wird zugleich eine Kultur-, Mentalitäts- und Industriegeschichte geschrieben. Diese Filme hatten einen wesentlichen Anteil an der Konstruktion nationaler Identität in der Schweiz und der Imagepflege im Ausland – insbesondere durch die Tourismusfilme, auf die Pierre-Emmanuel Jacques in einem Kapitel ausführlich eingeht. Er zeigt ebenfalls auf, dass die Touristenfilme in der Regel im Auftrag entstanden und auch außerhalb kommerzieller Kinos präsentiert wurden.

Deutlich herausgearbeitet wird die große Bedeutung des Gebrauchsfilms für die gesamte Schweizer Filmwirtschaft. Da in der Schweiz pro Jahr nur einige wenige lange Spielfilme produziert wurden, konnte für den Zeitraum vor 1964 keine Produktionsfirma existieren, wenn sie sich nicht über eine konstante und starke Auftragsproduktion finanzierte. „Der Auftragsfilm bildete nicht nur die Existenzgrundlage der dokumentarischen Filmproduktion, wie Fueter 1951 festhielt, sondern die ökonomische Grundlage der gesamten einheimischen Filmbranche.“ (S. 49) Die dokumentarische Filmproduktion beginnt in der Schweiz erst Mitte der 1910er-Jahre. Vorher wurden dort Filme von ausländischen Unternehmen wie Cinématographe Lumière (schon 1896), Pathé oder dem Freiburger Weltkinematograph gedreht. Der Bedarf an Gebrauchsfilmen stieg, um auf Messen und Ausstellungen präsent zu sein oder ein Firmenjubiläum zu würdigen. Ein wichtiger Antriebsmoment war immer wieder die Modernisierung, also die Präsentation neuer Produkte oder Herstellungsverfahren in den Filmen. Zum Teil ist es schwierig, den Auftraggeber zu erkennen, wenn sich keine entsprechenden Produktionsakten finden lassen. Im Abspann wird er in der Regel nicht genannt und auch nicht immer stehen seine Produkte im Vordergrund. Nur durch begleitende Forschung gelingt es, die Kommunikationsabsicht herauszuarbeiten.

Als Forschungslücke erweist sich das Verhältnis des neu aufgebauten Mediums Fernsehen zum dokumentarischen Film. „Fundierte Aussagen zur Bedeutung des Fernsehens für den dokumentarischen Film vor 1964 lässt der gegenwärtige Forschungsstand nicht zu.“ (S. 122) Yvonne Zimmermann vermutet, dass das Fernsehen als Auftraggeber vor 1964 nicht sehr in Erscheinung getreten ist. Im Detail geht sie auf die Industriefilme der Lebensmittelbranche (Maggi, Suchard, Nestlé), der Maschinen-, Elektro- sowie der Metallindustrie ein. In der Schweiz wurden beispielsweise zahlreiche Gebrauchsfilme über die Wasserkraft als ‚weiße Kohle‘ gedreht, bei der man die Faszination der Berge mit Bildern moderner Technik verknüpfen konnte. Der Industriefilm ist ein Teilaspekt einer ökonomischen Erschließungspraxis. „Industriefilme sind in dieser Optik ein mediales Mittel der Wirtschaft zur industriellen, politischen und gesellschaftlichen Konsensbildung und gehören damit zu den Sozialtechniken von Unternehmen zur Förderung des wirtschaftlichen Wachstums.“ (S. 245f.) Diese Funktion übernahmen die Filme sowohl intern in den Betrieben, als auch extern gegenüber den Konsumenten bzw. dem Staat und der Gesellschaft. Dies macht sie so interessant als Quelle für verschiedene Wissenschaften.

In der Analyse zu Schul- und Lehrfilmen zeichnet Anita Gertiser die Geschichte der vier Institutionen nach, die in der Schweiz seit den 1920er-Jahren entsprechende Filme produzierten. Dabei verfolgten sie durchaus unterschiedliche Konzepte – ob sie nun kurze Unterrichtsfilme von wenigen Minuten Länge produzierten, die die Lehrer beim Unterricht unterstützen sollten, oder allgemeine Lehrfilme mit dokumentarischen Reise-, Städte- oder Industriebildern, die oft eine andere Fassung der im Kino laufenden Vorfilme waren. Ihre Wurzeln hatten diese Institutionen in der Kinoreformbewegung, die dem kommerziellen Kino mit seinem Schund pädagogisch wertvolle Produktionen entgegenstellen wollte. „Mit der Differenzierung von Lehr- und Schulfilm war in der Schweiz ein ökonomischer Kampf um die Vormacht auf dem kleinen heimischen Schulmarkt und ein pädagogischer Konflikt um die Definition des ‚wahren‘ Lehrfilms verknüpft, der die Rivalität der involvierten Institutionen prägte.“ (S. 389)

Für die Untersuchung wurden rund 1.200 Filme gesichtet. Mehr als die Hälfte davon sind in der Cinémathèque Suisse in Lausanne überliefert. Viele sind aber verstreut auf zahlreiche kleine Archive in den Kommunen, in der Industrie und bei Privatsammlern. Die Studie versteht sich auch als Aufruf, sich stärker um die konservatorische Sicherung dieses Filmerbes zu kümmern, das bisher im Schatten des Spielfilms stand. Denn es ist zu befürchten, dass mittelfristig das dokumentarische Filmerbe der Schweiz gefährdet ist, wenn es nicht unter professionellen Bedingungen gelagert und archivarisch aufgearbeitet wird. Insgesamt also eine wichtige Publikation, die neue Anstöße gibt für die Positionierung der dokumentarischen Produktion in der Filmgeschichte, indem sie die Schweizer Dokumentargeschichte als eine Geschichte des Gebrauchsfilms schreibt.

Redaktion
Veröffentlicht am
23.07.2012
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