S. Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945

Cover
Titel
Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945.


Autor(en)
Friedländer, Saul
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
809 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benedikt Hauser

Instinktiv zögert man zunächst ein wenig, das hier zu würdigende Buch zur Hand zu nehmen: Schliesslich gibt es Angenehmeres zu lesen als mehrere hundert eng bedruckte Seiten zur Geschichte eines der grössten und abscheulichsten Verbrechen der Menschheit. Bereuen wird man die Lektüre freilich nicht: Wissenschaftlich werden höchste Ansprüche erfüllt, und zudem gelingt es dem Autor, den Stoff vom Anfang bis zum Schluss spannend und ergreifend zu vermitteln.

Die Gesamtdarstellung der Verfolgung und der Vernichtung der Juden zur Zeit des Dritten Reichs, die vor rund acht Jahren mit einem ersten Band begonnen wurde, findet mit dem nunmehr vorliegenden zweiten Band ihren Abschluss. Friedländer geht dabei vom Ansatz aus, «den systematischsten und entschlossensten aller Völkermorde» als «Totalität» zu verstehen, die sich durch ein «Konvergieren eigenständiger Elemente» ergibt (S. 13). Konsequenterweise wird der Blick denn auch auf die Verbündeten von Nazi-Deutschland ausgeweitet, so wie ebenfalls die Politik mit einbezogen wird, welche die Alliierten, die neutralen Länder in Europa und internationale Organisationen und Bewegungen angesichts des Holocausts verfolgten.

Anknüpfend an den ersten Band wird zunächst der zentrale Stellenwert von Hitlers Judenhass hervorgehoben. Frustrationen, Obsessionen, Vorurteile und pseudowissenschaftliche Konstrukte vermischten sich zu einem Amalgam von Vorstellungen, die Friedländer zusammenfassend unter dem Begriff des Erlösungsantisemitismus subsumiert. Dabei entstand ein Weltbild, in dem das Böse metahistorisch durch die Juden verkörpert wird: Heimtückisch aktiv, zersetzen sie den vitalen Kern der Nation und bereiten einen neuen Weltkrieg vor. Dieser wird an erster Stelle das neu erwachte Deutschland treffen, das nur dann obsiegen kann, wenn es ihm in diesem Kampf auf Leben und Tod gelingt, das Judentum unschädlich zu machen und es auszurotten. – Der Verfasser grenzt sich somit klar vom Forschungsansatz ab, dass der Holocaust gleichsam «nur» die letzte sekundäre Konsequenz einer expansiven Strategie darstelle, die genuin auf wirtschaftliche, militärische, politische und demographische Ziele fokussiert gewesen sei. Damit soll nicht behauptet werden, dass die Machthaber des Dritten Reichs die Judenpolitik nicht multifunktional zu nutzen wussten wie z.B. zur Indoktrinierung und zur Mobilisierung der öffentlichen Meinung oder – mittels Arisierungen – zur Entlastung des hoch defizitären Staatshaushalts und zur Zufriedenstellung der kriegsgeprüften nichtjüdischen Bevölkerung in Form der Schaffung von Möglichkeiten der Bereicherung.

Die Präsentation des Stoffs gliedert sich in drei chronologisch aufgebauteTeile. Sie tragen die Titel Terror (Herbst 1939 – Sommer 1941), Massenmord (Sommer 1941 – Sommer 1942) und Shoah (Sommer 1942 – Frühjahr 1945). Innerhalb der einzelnen Zeitabschnitte kommen sowohl die Perspektiven der Täter und der Opfer als auch die Sicht der Zuschauer zur Darstellung. So wird im ersten Kapitel darauf verwiesen, dass sich Hitlers Kriegsführung in Osteuropa radikal von traditionellen Eroberungen unterschied und sich zum «Volkskampftum» bekannte, dessen Endziel nicht die Erringung eines militärisch definierten Sieges, sondern die Ausmerzung eines rassisch definierten Feindes war. Insbesondere die Ausweitung des Krieges nach dem Angriff auf die Sowjetunion löste sukzessive Wellen der frei entfesselten Gewalt, der Vernichtungswut und der systematisch praktizierten Barbarei aus, deren Verlauf in einer ersten Zeit noch stark von den Verhältnissen vor Ort abhing: Erst ab Sommer 1942 erfolgte die Vernichtung zusehends als zentral gesteuerter Prozess, wobei es bei der Umsetzung weiterhin markante Unterschiede gab, die klar erkennen lassen, dass sehr wohl Ermessensspielspielräume vorhanden waren. Dabei wird auch die sich still und reibungslos vollziehende Zusammenarbeit mit den Behörden von besetzten Ländern rekonstruiert, mit deren Unterstützung die Erfassung der jüdischen Bevölkerung und ihre Zuführung zur Vernichtung speditiv und deutscherseits mit minimalem Aufwand vorangetrieben werden konnten. Besonders einprägsam wird schliesslich dargestellt, wie sich Hitlers beispielloser Judenhass in seiner fanatischen Verbissenheit bis zum bittern Ende unablässig steigerte und sich auf den Herrschaftsapparat des NS-Regimes übertrug, der so in seinem inneren Zusammenhalt gefestigt wurde und sich vom Technokraten an der Spitze bis zum Henker an der Basis auf ein Ziel hin motivieren und mobilisieren liess. In dieser Hinsicht ging das Kalkül des «Führers» sehr wohl auf: Eine Implosion des Dritten Reichs blieb aus. Es kollabierte erst, als es seine Gegner okkupierten.

Antworten auf die Frage, wie es den Nazis und ihren Verbündeten gelang, die Vernichtungspolitik in Gang zu setzen und den Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas durchzuführen, lassen sich erst finden, wenn auch die Opfer Gegenstand der Untersuchung sind. Friedländer schildert dabei nicht nur Einzelschicksale, sondern er behandelt ebenfalls die kollektive Ebene und die Interaktionen zwischen Juden, Zuschauern und Tätern, wobei auch Sachverhalte zur Darstellung gelangen, welche die Betroffenen – bei aller Tragik des Geschehenen – nicht nur in vorteilhaftem Licht erscheinen lassen, sei es wegen der Verkennung bzw. der Verdrängung der Realität oder wegen fehlender gegenseitiger Solidarität. So wird z.B. auf Marc Bloch verwiesen, der hinsichtlich der nicht assimilierten ausländischen Juden, die in Frankreich lebten, 1940 festhielt, dass «ihre Sache … nicht direkt die unsere» sei und dass ihr Überleben «von der einen oder andern Form der Auswanderung» abhängig sein mochte (S. 203f.). Beklemmend muten die Beschreibungen der Ghetto-Welten und der in ihnen praktizierten Überlebensstrategien an: Sie reichten von der Komplizenschaft mit der SS bis hin zum Aufstand und zum aussichtslosen Kampf, wobei rücksichtsloser Egoismus ebenso anzutreffen war wie aufopferndes Engagement für die Gemeinschaft. Die Handlungsspielräume wurden sukzessive eingeengt: Ob man sich dem Zugriff der Häscher entziehen konnte, blieb schliesslich allein dem Zufall überlassen. Beschrieben wird auch der Vollzug der Vernichtung selbst: Sicher trifft die oft zitierte Formulierung des millionenfachen Mordes zu. Nicht ausgeblendet darf indessen auch die Grausamkeit der Umsetzung mit der den Opfern zugefügten Pein: Erschiessungen, Erschlagungen, Erhängungen, Aushungerungen, Ertränkungen, Folterungen und Vergasungen sowie manches anderes mehr: Wer sich mit dem Holocaust befasst, kommt nicht herum, sich auch solches zu vergegenwärtigen.

Ausführlich untersucht wird auch das Verhalten der Beobachter. Speziell hervorgehoben wird dabei das Faktum, dass die Judenpolitik der Nazis nie «auf irgendwelche nennenswerte Gegenkräfte» stiess (S. 20). Sowohl bei der so genannten einfachen Bevölkerung als auch bei den Eliten war der Antisemitismus weit verbreitet und offenbar auch tief verwurzelt. Aufschlussreich sind hier die Reaktionen auf die Einführung der Tragungspflicht des Judensterns in Deutschland: Sicher gab es anfänglich vereinzelte Bekundungen der Sympathie mit den Betroffenen, doch mehrheitlich wandte man sich vom Geschehen ab und verhielt sich passiv. Auch die Kenntnisse über die Vernichtung selbst, die entgegen anders lautenden Beteuerungen kein Geheimnis war, haben nichts an dieser Einstellung geändert. Selbst in Kreisen des Widerstandes ging man davon aus, dass «die Existenz einer zahlenmässig erheblichen Judenschaft innerhalb eines Volkes … nun einmal ein Problem» darstelle: Werde sich im postnationalsozialistischen Deutschland nach der zu vollziehenden Aufhebung der Nürnberger Gesetze auf Sonderbestimmungen für Juden verzichten lassen, so deshalb, weil «die Zahl der überlebenden und der zurückkehrenden nicht so gross sein werde, dass sie als Gefahr für das deutsche Volkstum angesehen werden könne» (S. 540).

Bedrückend wirken insbesondere auch die Passagen, welche die Verhaltensweisen führender Exponenten der christlichen Konfessionen schildern. Den kirchlichen Würdenträgern war die Shoa sehr wohl bekannt, und dennoch blieben offizielle Reaktionen aus, die sich als mutig oder engagiert bezeichnen liessen. Unterstützung aus dem Vatikan gab es diesbezüglich keine. «Nächstenliebe ist sicher gut», gab 1943 der Nuntius gegenüber Bischof Preysing zu verstehen, «aber die grösste Nächstenliebe besteht darin, der Kirche keine Schwierigkeiten zu bereiten» (S. 544). Gewiss kann man für dieses Schweigen dann Verständnis finden, wenn man die Kirche als Institution betrachtet, die gleich wie andere Institutionen sich primär um ihre eigenen Interessen kümmert. Was Pius XII. konkret zur Sprache brachte, als er 1944 den amerikanischen Gesandten zu einer Audienz empfing, war nicht der Holocaust, sondern vielmehr seine Sorge, wie sich Schäden am Eigentum des Heiligen Stuhls in Rom verhindern liessen.1 Von einem übergeordneten Standpunkt aus betrachtet, war diese Politik jedoch vor allem auch angesichts der nicht genutzten Möglichkeit, sich an die Gläubigen zu richten und auf die öffentliche Meinung einzuwirken, höchst fragwürdig und verwerflich, zumal 95% der Deutschen damals Kirchgänger waren. In diese Über legungen hätte der Autor im Übrigen auch die Wirtschaft einbeziehen können: Auch prominente Führungskräfte grosser Unternehmen hätten sich kritisch zur Shoa vernehmen lassen können, denn in der Geschäftswelt, aber auch in einer breiteren Öffentlichkeit wäre ihre Stimme mit Sicherheit nicht ungehört verhallt, doch fast alle unter ihnen schwiegen ebenfalls.

Zum Schluss ein kurzes Wort noch zu den Quellen. Der Verfasser hat bewusst von eigenen Archivrecherchen abgesehen. Dafür wertet er ein in seiner Breite einzigartiges Spektrum von Dokumentensammlungen, Erinnerungen, Zeitzeugnissen und Forschungsliteratur aus, das sowohl schon seit langem vorliegende Quelleneditionen und ältere, heutzutage weitgehend vergessene Studien als auch neueste Erscheinungen wie z.B. von offiziellen Kommissionen publizierte Berichte über die Zeit des Zweiten Weltkrieges enthält. Hinzu kommt eine Fülle von Artikeln aus Tageszeitungen und Fachzeitschriften. Eines der grossen Verdienste des Buches ist es, diesen mehrsprachigen Fundus konstituiert und ausgewertet zu haben. Zahlreiche Aufsätze und Einzeluntersuchungen, die in der Regel nur ein eher eng begrenztes Publikum erreichen und in der Masse der mittlerweile unüberschaubar gewordenen Literatur unterzugehen drohen, werden dadurch zu einander in Bezug gesetzt und für die weiterführende Forschung valorisiert. Auch deshalb kommt Friedländers Buch der Status eines Standardwerkes zu.

1 In diesem Zusammenhang ist an die Beschlagnahme von Kirchenbesitz im Rahmen des nationalsozialistischen Kirchenkampfes von 1940/41 zu erinnern. Dazu neu vgl. Mertens, Annette: Himmlers Klostersturm. Paderborn, Ferdinand Schöningh Verlag, 2006.

Zitierweise:
Benedikt Hauser: Rezension zu: Saul Friedländer: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden. Zweiter Band, 1939–1945. München, Verlag C.H. Beck, 2006. Claudia Erdheim: Längst nicht mehr koscher. Die Geschichte einer Familie. Wien, Czermin Verlag, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 4, 2007, S. 495-498.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 4, 2007, S. 495-498.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit