N. Ritzer: Alles nur Theater?

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Titel
Alles nur Theater?. Zur Rezeption von Rolf Hochhuths «Der Stellvertreter » in der Schweiz 1963/1964


Autor(en)
Ritzer, Nadine
Reihe
Religion - Politik - Gesellschaft in der Schweiz 41
Erschienen
Freiburg i. Ü 2006: Academic Press
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Patrick Zehnder

Alles nur Theater? Keineswegs! Dies das Ergebnis der Studie, die sich mit der Wirkungsgeschichte von Rolf Hochhuths «Der Stellvertreter» in der Schweiz befasst. Schon die Uraufführung auf der Freien Volksbühne in Berlin am 20. Februar 1963 warf hohe Wellen, so dass die hierzulande an diesem Theaterstoff Interessierten vorgewarnt waren. Denn der Stoff, der da auf die Bühne kommen sollte, befasste sich mit der unmittelbar vorhergegangenen Zeit und nahm gleichzeitig die mit dem Dritten Reich verknüpfte Shoah und das Verhalten der römisch-katholischen Kirche auf. Damit kam Papst Pius XII. – in der Nachfolge des Apostels Petrus der nominelle Stellvertreter Christi auf Erdenin das Schussfeld der Kritik. Sein Pontifikat von 1939 bis 1958 deckte zeitlich einen Teil der nationalsozialistischen Herrschaft und der Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden ab.

Die Reaktionen in der Deutschschweizer Öffentlichkeit waren überaus heftig. Demonstrationen, Drohbriefe, Stinkbomben, faule Eier, gar eine Bombendrohung begleiteten die erste Inszenierung in der Schweiz. Sie gelangte vom Basler Stadttheater nach der Schweizer Uraufführung am 24. September 1963 auch nach Zofingen, Olten und Aarau. Darauf wurde in Basel Polizeischutz angeordnet, Zürich verzichtete auf jede Vorstellung, öffentliche Aussprachen wurden angesetzt und in Bern eine zweite, entschärfte Version mit Uraufführung am 11. Dezember 1963 in Szene gesetzt. Dafür war vor allem, aber nicht nur das in Parteien und Vereinen organisierte katholische Milieu verantwortlich, das zum letzten Mal überhaupt zusammenrückte und sich in einer nie mehr gesehenen Geschlossenheit aufbäumte. Es engagierten sich auch andere Personen und Gruppen, die den Religionsfrieden gefährdet sahen.

Nadine Ritzer verfolgte mit der vorliegenden Arbeit eine Spur, die sie mit ihrer Lizentiatsarbeit am Seminar für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg i. Ü. aufgenommen hatte. Mit viel Sorgfalt und Detailkenntnis arbeitet sie in einem ersten Abschnitt heraus, weshalb denn die Reaktionen derart heftig ausfielen: «Der Stellvertreter» fiel in eine Zeit, in der das Todesurteil über Adolf Eichmann in Jerusalem (1961) und der Auschwitz-Prozess in Frankfurt (1963) grosse Aufmerksamkeit erregten. Gleichzeitig begann man die Rolle der römisch-katholischen Kirche während des Zweiten Weltkrieges zu hinterfragen. Dies fiel zusammen mit dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962), das der katholischen Kirche eine Erneuerung bringen sollte. Die Diskussion um das Verhalten der offiziellen Schweiz in der gleichen Periode war noch wenig fortgeschritten.

Der zweite Abschnitt hält die Rezeption der beiden Schweizer Inszenierungen fest. Dabei werden Dokumente aus zahlreichen, örtlich weit verteilten Archiven beigezogen. Die darin gespiegelte öffentliche Diskussion wird in einem dritten Abschnitt analysiert als drei langlebige Diskurse. Sie drehten sich um das Verhalten von Pius XII., um Person und Werk von Rolf Hochhuth und um die Vergangenheit an sich. In diesen letzten flossen auch Fragen um den christlichen Antijudaismus und die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Diese erweisen sich als die langlebigsten und sind heute aktuell. Die Diskursanalyse wird an der Schnittstelle zwischen Theaterwissenschaften und Geschichtsforschung gewinnbringend angewandt.

Abschliessend formuliert Ritzer in acht Schlussthesen die Resultate. An diesen wird offenbar, dass sich ein Ausbau der Studie zu einer Dissertation gelohnt hätte, beispielsweise mit einem Blick in den weiteren deutschsprachigen Raum und dem entsprechenden Vergleich oder einer vertieften Untersuchung der Haltung von zum Teil schweigenden Gruppen in der Schweiz. Angesichts des geringen Alters des Forschungsgegenstandes wären Informationsgespräche mit den damaligen Exponenten möglich gewesen, was allerdings einen Methodenwechsel bedingt hätte.

Zitierweise:
Patrick Zehnder: Rezension zu: Nadine Ritzer: Alles nur Theater? Zur Rezeption von Rolf Hochhuths «Der Stellvertreter » in der Schweiz 1963/1964. Freiburg i. Ü., Academic Press Fribourg, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 2, 2007, S. 215-216.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 2, 2007, S. 215-216.

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