U. Altermatt u.a. (Hrsg.): Religion und Nation

Cover
Titel
Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts


Herausgeber
Altermatt, Urs; Franziska Metzger
Reihe
Religionsforum 3
Erschienen
Stuttgart 2007: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Josef Inauen, Universität Freiburg i.Ue.

Es ist unbestritten, dass die Zugehörigkeit zu einer Nation im 19. und 20. Jahrhundert der wohl stärkste Identitätsfaktor moderner Gesellschaften geworden ist. Zwar hat er heute an Ausschliesslichkeit eingebüsst, neueste Ereignisse zeigen aber, dass die Kraft des Nationalen ihre entwicklungsmächtige, aber auch zerstörerische Wirkung noch nicht verloren hat. Unbestritten ist auch die besondere Beziehung zwischen Religion und Nation: Sakralisierung des Nationalen; Nationalisierung religiöser Diskurse und Praktiken; Beitrag von Religionen und Konfessionen zur Nationsbildung; Gegensatz zum Nationalstaat und Förderung eines anderen, konkurrierenden Nationsmodells; Entwicklung von konfessionellen Sonder- oder Subgesellschaften in einem ambivalenten Prozess im Gegensatz zum Nationalstaat. Dem wichtigen Thema des Verhältnisses zwischen Religion und Nation ist am Beispiel der Rolle des Katholizismus der zu besprechende Band gewidmet, und zwar in einem methodisch doppelten und sich ergänzenden Sinn: Einerseits entwickelt Urs Altermatt eine Typologie des Verhältnisses von Katholizismus und Nation mit vier Modellen der Partizipation am Nationalstaat, andererseits zeigen namhafte Spezialisten der Katholizismus- und Nationalismusforschung aus verschiedenen europäischen Ländern Übereinstimmungen mit den entwickelten Modellen, aber auch nationale Besonderheiten auf.

Die meisten Beiträge gingen aus einem von Urs Altermatt und Franziska Metzger am 30. April und 1. Mai 2004 an der Universität Fribourg organisierten Kolloquium hervor. 1 Zunächst stellt Urs Altermatt (Fribourg) «in europäisch-vergleichender Perspektive» seine vier Grundmodelle vor, nicht ohne darauf hinzuweisen, «dass einzelne Länder zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlichen Modellen angehören konnten, was einen synchronen und diachronen Vergleich notwendig macht»: (1) Identitäres Modell: Überlagerung religiöser und nationaler Kommunikationsgemeinschaften: Belgien, Spanien, teilweise Österreich; (2) Kultursymbiose- und Separationsmodell: Identität über innere Differenz: Polen, Irland, Jurakonflikt; (3) Konkurrenzmodell: konkurrierende und sich überschneidende Kommunikationsgemeinschaften: Deutschland, Schweiz, Niederlande; (4) Trennungsmodell mit traditionalistischer Opposition: Frankreich, Italien.

Die weiteren Beiträge des 3. Bandes der von Urs Altermatt, Mariano Delgado und Guido Vergauwen herausgegebenen Reihe «Religionsforum» sind nach diesen Modellen geordnet. Beim identitären Modell beschreibt Emiel Lamberts (Leuven) die spannende und wechselvolle Geschichte von Religion, Nation und Sprachen in Belgien. Mariano Delgado (Fribourg) beschäftigt sich mit dem Gegensatz der «zwei Spanien» und stellt u.a. die politisch-philosophischen Gedanken der spanischen katholischen Traditionalisten mit ihrer «messianischen Sicht» der Geschichte Spaniens dar. Ernst Bruckmüller (Wien) beschreibt die besondere Situation Österreichs und korrigiert das Vorurteil einer Gleichsetzung mit «Katholizismus».

Beim Kultursymbiose- und Separationsmodell weist James E. Bjork (London) nach, dass es in Polen beim Stellenwert des Religiösen erstaunliche regionale Unterschiede gibt, die auf alten historischen Traditionen beruhen. Einen konzisen Überblick über die wechselvolle irische Geschichte und ihre Verbindung mit Konfessionen und sozialer und wirtschaftlicher Schichtung gibt Sean J. Connolly (Belfast).

Fünf Tagungsbeiträge beschreiben das Konkurrenzmodell in den gemischtkonfessionellen Ländern Deutschland, Schweiz, Niederlande, Tschechien und Ungarn. Siegfried Weichlein (Fribourg) legt bei der historischen Beschreibung des deutschen Katholizismus besonderen Wert auf die Versprachlichung der Nation, die Überlagerung der Kritik am – kleindeutschen – Nationalstaat mit nichtkonfessionellen regionalen, sozialen und kulturellen Identifikationen, die «doppelte Loyalität» der Katholiken und die «Loyalitätsbrücken» des Monarchismus und Föderalismus. Versprachlichung des Nationalen und Überlagerungen vielfacher Art – «entangled discourses» – stehen auch im Zentrum des Beitrages von Franziska Metzger (Fribourg) zur Schweiz. Ausgehend von der These der Beteiligung verschiedener Kommunikationsgemeinschaften an der Konstruktion der schweizerischen Nation stellt sie die Frage nach dem Verhältnis konfessioneller und nationaler Identitäten. Mechanismen der Personalisierung und Charismatisierung werden am Beispiel von Josef Leu verständlich. Theo Salemink (Tilburg) vertritt in seinem Beitrag zu den Niederlanden den Standpunkt, dass eine theologisch und kirchenpolitisch ultramontane und antiliberale Bewegung durchaus Modernisierung bedeuten könne, während Urs Altermatt von einem Antimodernismus der ultramontanen Katholiken mit modernen Mitteln spricht. Martin Schulze Wessel (München) widmet seine Studie dem komplexen Verhältnis von Religion und Nation in Tschechien und weist auf das Schlüsseljahr 1848 hin. Dabei gelte für das östliche Europa, dass das Verhältnis von Religion und Nation nicht ohne das Reich denkbar sei, das «Religion als eine seiner wichtigsten Legitimationsressourcen» betrachtete; die Nationen ohne Staat waren ihrerseits für die Versprachlichung auf religiöse Kultur angewiesen. Die konfessionelle Konstruktion der ungarischen Nation durch deren Eliten seit etwa 1848 behandelt Árpád von Klimó (Berlin/Potsdam).

Beim Trennungsmodell mit traditionalistischer Opposition zeigt Francis Python (Fribourg) auf, dass die Französische Revolution die engen Beziehungen zwischen der französischen nationalen Identität und dem Katholizismus unterbrochen habe und dass man seither von verschiedenen Modalitäten der Beziehungen zwischen den «deux France [sic!]» («catholique» und «laïque») sprechen könne. Der Nationalismus verschob sich zwischen 1815 und 1880 von der Linken zur Rechten; die nationale Integration setzte sich seit der «Union sacrée» im Ersten Weltkrieg mehr und mehr durch. Carlo Moos (Zürich) stellt fest, dass in Italien die Gegnerschaft zwischen Kirche und Staat als Resultat des Risorgimento einer der wichtigsten Gründe «für das letztliche Scheitern des ‘Nationbuilding’» und «für ein weiterhin schwach entwickeltes Staatsbewusstsein» sei.

Absicht der Herausgeber war, die in den letzten Jahren zum Thema Religion und Nation erschienenen Forschungsbeiträge aufzugreifen und «die Diskussion in Bezug auf den Katholizismus» weiterzuführen. Sie haben diese Absicht voll und ganz erreicht – mehr noch: Sie haben zusammen mit den Autoren nicht nur wertvolle Diskussionsgrundlagen vorgelegt, sondern darüber hinaus den Stand der aktuellen Diskussion zusammengefasst. Der Band stellt zweifellos einen wichtigen Beitrag zur Historiografie des Nationalen und des Katholischen dar, was aber nicht abschliessend gemeint ist, sondern vielmehr als Anregung zu weiterer Auseinandersetzung mit dem Thema. Viele offene Fragen und Forschungslücken werden aufgedeckt und neue Forschungsrichtungen aufgezeigt. Ich denke vor allem an folgende: Verhältnis der Konfessionen zu Kolonialismus und Imperialismus; katholische Mission und Nation; Katholizismus und verschiedene Spielarten des Nationalen; Katholizismus und Ethnizität und Ethnisierung innerkirchlicher Konflikte; Beitrag der historischen Semantik zur Erforschung der nationalen Vokalisierung; Vergleich mit den frühneuzeitlichen Formen des Nationalen; Religion und Wehrhaftigkeit/Pazifismus; Gewichtung des zentralen päpstlichen Einflusses im Verhältnis zum national-regionalen; Gegensatz zwischen einem universalistischen Religionsbekenntnis und dem Nationalen; Föderalismus und regional-konfessionelle Formen; katholische Milieus im Vergleich; Parallelen und Unterschiede zwischen verschiedenen religiösen Bekenntnissen; Kontakte und Netzwerke zwischen den Modellen/Ländern.

Welches sind die Stärken des Buches? Man muss zuallererst auf die Verbindung von idealtypisch-modellhafter Betrachtung mit nationalen Einzelstudien hinweisen; beide Betrachtungsebenen profitieren: Die Modelle gewinnen an Plausibilität und Differenziertheit; die nationalen Einzelstudien können über die Modelle besser miteinander verglichen werden und erhalten so eine enorme theoretische Schärfe. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie wichtige Aspekte (doppelte oder mehrfache Frontstellungen, Gemengelagen, Überlagerungen) deutlich herausarbeiten. Was den Band zusätzlich auszeichnet, sind die verschiedenen methodischen Ansätze und benutzten Quellen. Alle Autoren verweisen schliesslich auf grundlegende und weiterführende Literatur. Wie bei allen Sammelbänden und vor allem bei mehrsprachigen – in diesem Band sind die Beiträge mehrheitlich in deutscher, drei in englischer, einer in französischer Sprache; und nicht alle Autoren schreiben in ihrer Muttersprache – stellt sich auch hier das Problem der durchgehenden sprachlichen Einheitlichkeit. Dies hat aber keinen Einfluss auf die inhaltliche Bedeutung des vorliegenden Bandes: Ein unverzichtbares Buch für alle auf dem Gebiet der Nations-, Sozial-, Kultur- und Religionsgeschichte Arbeitenden. Die Diskussion ist noch im Gange; viele weitere Forschungen sind notwendig. Es ist das Verdienst der Herausgeber und Autoren dieses Bandes, dazu einen umfassenden Überblick und eine Fülle von Anregungen gegeben zu haben.

1 Tagungsbericht von Franziska Metzger «Review of Religion und Nation» in: H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews, June, 2004, URL: <http://www.h-net.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path=727>, 30. Juli 2008; <http://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=15418>, 11. Oktober 2008. Von den Referaten erscheint einzig dasjenige von Oliver Zimmer nicht in diesem Band. Die Beiträge von Ernst Bruckmüller, James E. Bjork und Sean J. Connolly gehen nicht auf Vorträge an der Tagung zurück.

Zitierweise:
Josef Inauen: Rezension zu: Urs Altermatt, Franziska Metzger (Hg.): Religion und Nation. Katholizismen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart, Kohlhammer, 2007. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 58 Nr. 4, 2008, S. 487-489.