H.R. Fuhrer u.a. (Hrsg.): General Ulrich Wille

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Titel
General Ulrich Wille. Vorbild den einen – Feindbild den anderen


Herausgeber
Fuhrer, Hans Rudolf; Stässle, Paul Meinrad
Erschienen
Zürich 2003: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

In einem der Beiträge wird Carl Helblings Wille-Biografie (1957) als die gründlichste gelobt. Der so Urteilende, ein über 80jähriger ehemaliger Berufsoffizier, glaubt sein Urteil mit der polemischen Bemerkung verbinden zu müssen, dass die besserwisserischen jüngeren Historiker der Wahrheit jedenfalls nicht näher kommen würden (S. 175). Hans Rapolds Aufsatz, um den es hier geht, ist einer von gut 20 Beiträgen, die aus einer Vortragsreihe im Wintersemester 2001/02 an der Universität Zürich zum 125jährigen Bestehen militärwissenschaftlicher Lehrangebote an der ETH entstanden sind und im vorliegenden Band nun auch einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Die in den Ansätzen wie in der Qualität stark divergierenden Beiträge sind alle um das «Phänomen Ulrich Wille» gruppiert.

Der erste Teil ist der Person Willes gewidmet; in ihm kommen auch Familienangehörige ausgiebig zu Wort (Jürg Wille und Alexis Schwarzenbach). Der graphologischen Beitrag von Christine Siegenthaler kommt zum Schluss, dass Wille ein sensibler Mensch war, der den Halt und die Stabilität seiner Umgebung brauchte. Wohltuend kritisch ist der von Hans Rudolf Fuhrer verfasste Aufsatz zur «Markwald-Affäre»; dieser Beföderungsstreit zeigt, dass Wille in einem hohen Mass Mitverursacher der Konflikte war, die in seiner Karriere immer wieder aufbrachen. In diesem Beitrag erfährt Helblings Wille-Biografie eine richtige Einordnung, wenn es heisst, sie habe ganz Willes Sicht zu ihrer eigenen gemacht (S. 161).

Der zentrale zweite Teil feiert Wille als Ahnherrn der militärischen Pädagogik und führt mit Studien über das Nachleben der Wille-Doktrin bis zu den Konzepten der Armee XXI (Ulrich Zwygart). Die von Stephan Zurfluh besprochene Oswald-Reform von 1970 würde es allerdings verdienen, auch in anderem Zusammenhang zur Kenntnis genommen zu werden; die der ganzen Publikation anhaftende apologetische Tendenz führt hier zur Feststellung, dass nicht Wille für «übertriebene» Anforderungen im Drill und inneren Dienst und für die Betonung der Standesunterschiede verantwortlich gemacht werden könne; seine Nachfolger hätten seine Ideen verfälscht oder nicht angepasst.

Im dritten Teil zu einzelnen «Sachfragen» hat man Gelegenheit, Willi Gautschis früheren Befund zur Kenntnis zu nehmen, dass 1918 der Streik durch das Truppenaufgebot ausgelöst wurde und die Reihenfolge nicht umgekehrt war. Die ebenfalls schon andernorts eingehend behandelte und hier von Hans Rudolf Furrer nochmals vorgestellte Oberstenaffäre zeigt, wie stark die innenpolitischen Gegensätze damals waren. Aus Willes Sicht war nicht der Geheimnisverrat, sondern das Reden darüber das wirklich Staatsgefährliche. Und diejenigen, die darüber redeten, wurden als «verbrecherisches Pack» bezeichnet, gemeint waren die «Welschen und Sozialisten», und «unseren Welschen» wurde unterstellt, dass sie «die ganze Eidgenossenschaft unter ihr Joch drücken» wollten. Einer anderen Vorarbeit entsprang der Beitrag über den in den Winterhalbjahren angebotenen Truppen-Vortragsdienst. Yves-Alain Morel umschreibt seinen Befund als «zwiespältig », weil diese Angebote kaum die Sinnfrage thematisierten und vor allem Disziplin und Gehorsam einforderten. Wille verstand Disziplin nicht als Knechtung, sondern als «Befreiung des Geistes und des Körpers», und es ging offensichtlich nicht nur um das Verhalten im Militärdienst, sondern um ein Ideal, das auch im Zivilleben gelten sollte. Darum auch die Bemerkung, es gehe darum «unsere Welschen in Ordnung zu bringen» (S. 279). Die zu Disziplinierenden werden mit Kindern und «Frauenzimmern» gleichgesetzt und als Disziplinierungsmethode «ein Paar Tüchtige hinten auf» empfohlen. Der Krieg erscheint als «Gesetz der Menschheit», dem sich ein «männliches, kräftiges Volk» nicht immer entziehen könne. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit Willes Virilismus bietet Rudolf Jaun, der Autor der Studie «Preussen vor Augen» (1999) zum schweizerischen Offizierskorps vor 1914.

Besondere Aufmerksamkeit verdienst Christoph Mörgelis Beitrag, gelingt es ihm doch, plausibel nachzuweisen, dass Armeearzt Carl Hauser mit Bundesrat Edmund Schulthess im Oktober 1917 versuchte, den als deutschfreundlich taxierten General mit Gesundheitsargumenten abzusetzen und durch den Frankreich nahestehenden Korpskommandanten Alfred Audéoud zu ersetzen. Mit Audéouds plötzlichem Tod fiel der Plan jedoch in sich zusammen. Zu dieser Affäre gab es schon 1968 eine Kontroverse zwischen Paul Schmid-Ammann, der die These der politischen Intrige, und Willi Gautschi, der die Senilitätsthese vertrat und auch später erneut verteidigte. Die von Mörgeli vorgelegten und verarbeiteten Dokumente zeigen, dass Schmid-Ammanns Auffassung die zutreffende ist. Die vom Sprecher-Biograf Daniel Sprecher (2000) geäusserten Zweifel an Willes Dienstfähigkeit im Kriegsfall könnten aber trotz der persönlichen und politischen Motivation der 1917 unternommenen Aktion eine gewisse Berechtigung haben.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Hans Rudolf Fuhrer, Paul Meinrad Strässle (Hg.): General Ulrich Wille. Vorbild den einen – Feindbild den anderen. Zürich, Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2003. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 2, 2004, S. 223-225.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 54 Nr. 2, 2004, S. 223-225.

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