R. Tschannen: Gerzensee

Titel
Gerzensee. Chronik bis Ende 1999


Autor(en)
Tschannen, Rudolf
Erschienen
Gerzensee 1999: Gemeindeverwaltung Gerzensee
Anzahl Seiten
155 S.
Preis
ISBN
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Es dürfte eher selten vorkommen, dass eine Ortsgeschichte in einem Beschäftigungsprogramm für Arbeitslose entsteht. Das war hier der Fall, und das Resultat lässt sich sehen und lesen. Als Chronist/Verfasser zeichnet Rudolf Tschannen, für die Administration und Recherchen Barbara Gloor. Das Ergebnis lässt auf eine hervorragende Zusammenarbeit schliessen.

Rudolf Tschannen (1917–2001) gehört zur aussterbenden Generation von Lehrern, die das Gemeindeleben aktiv mitgestalten und sich so einen Erfahrungschatz und ein Beziehungsnetz schaffen, die für die Erarbeitung einer Ortsmonografie geradezu ideale Voraussetzungen bilden. Tschannen war unter anderem Feuerwehrkommandant, Sektionschef, Sekretär der Schulkommission und Wassersucher. Seine Partnerin Barbara Gloor leistete ausgezeichnete Recherchierarbeit, was im ganzen Band spürbar ist. So werden im Kapitel über das Gewerbe nicht einfach die Gewerbebetriebe aufgelistet, sondern mit Sorgfalt von jedem Betrieb das Gründungsjahr, der Gründer, die gegenwärtige Zahl der Arbeitskräfte und der heutige Inhaber oder die Inhaberin angegeben, Informationen also, welche nie in einer amtlichen Statistik abrufbar sind, die aber erst den gesellschaftlichen Wandel in diesem Bereich lebendig und anschaulich werden lassen.

Die Arbeit musste in einer begrenzten Zeit von einigen Monaten entstehen, was wieder ein Glücksfall war. Gerzensees Vergangenheit wird bereits in zwei Publikationen beschrieben (Franz Vollenweider: Gerzensee, 1972, Berner Heimatbücher, 111; Jürg Stuker: 750 Jahre Gerzensee, 1978). Deshalb wurde richtigerweise darauf verzichtet, schon Geschriebenes noch einmal festzuhalten. Die Chronik setzt ein mit einem Überblick seit 1798 und wendet sich dann dezidiert dem 20. Jahrhundert zu mit Schwergewicht auf den letzen 50 Jahren. «Es gab in der Geschichte der Menschen vermutlich wenige Epochen, in denen sich in nur 50 Jahren so viel verändert hat. Mir liegt daran, diesen Wechsel zu dokumentieren, indem vieles aus der Zeit davor noch einmal ans Tageslicht gerückt wird», schreibt Rudolf Tschannen (S. 40) und beschreibt damit exakt das, was die Geschichtswissenschaft heute das «1950er- Syndrom» nennt. Und wie es dem Autorenteam gelingt, diesen rasanten Wandel anschaulich zu machen, ist bewundernswert. Mit einer kaleidoskopartigen Fülle von Themen, mit einer gelungenen Auswahl von aussagekräftigen Bildern, mit Tabellen und Grafiken aus verschiedensten Bereichen und vor allem mit vielen Erinnerungen von Zeitzeugen wird die Entwicklung aufs Trefflichste dokumentiert. Dazu kommt, dass der Band flüssig und in einer prägnanten Sprache geschrieben ist, so dass die Lektüre von A bis Z ein Vergnügen ist. Einige Höhepunkte: die Anfänge des Eishockeysports in Wichtrach und Kirchdorf (EHC WiKi), von einem Gründungsmitglied beschrieben, die Schilderung der Lehrerwohnung im Vestischulhaus von 1934, die Wassersuche der Gemeinde mit Rutengänger und dem Lehrer als Sprengmeister in den fünfziger Jahren.

Dabei bleibt es nie beim Anekdotischen. Ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt die ordnende Hand und den roten Faden. Der Band umfasst fünf grosse Kapitel: 1) Von Rokoko bis Internet, 2) Chronik von 1906 bis 1957, 3) Die Gemeinde einst und heute (das Hauptkapitel), 4) Genossenschaften, Gewerbe, Parteien und Vereine sowie 5) Erinnerungen und «Müschterli». Im Hauptteil finden wir neben Themen, die in jeder Ortsgeschichte auftauchen – wie Schule oder Landwirtschaft –, auch solche, die auftauchen müssten, aber häufig links liegengelassen werden: Ortsplanung, Verwaltung (die Gemeindeschreiber, die so häufig ihre ebenso diskrete wie machtvolle Rolle spielen), Wasserversorgung, Elektrizität (der Schlossherr Berchtold von Erlach errichtete 1909 eine Kraftstation unten am Lölistutz mit Druckleitung aus dem Gerzensee), Porträts der Gemeindepräsidenten und der Pfarrer, Schmittengut (Beschreibung einer modernen Wohnüberbauung), Parteien, bekannte Gemeindebewohner.

Ein letztes Lob: Der Band ist durch die Firma Fischer Print in Münsingen grafisch hervorragend gestaltet worden. An den dreispaltigen Satzspiegel, der etwas an Zeitungsspalten erinnert, muss man sich einen Augenblick lang gewöhnen, er kommt aber sicher den heutigen schnellleserischen Gewohnheiten entgegen und eignet sich hervorragend, um Bilder ansprechend und abwechslungsreich zu platzieren.

Wer sich mit dem Gedanken trägt, eine Ortsgeschichte mit Schwergewicht im 20. Jahrhundert zu schreiben, sollte dieses Buch gründlich studieren. Man darf sich aber auch ganz einfach dem reinen Lese- und Schauvergnügen hingeben und das Aufgenommene mit eigenen Erinnerungen vergleichen.

Redaktion
Veröffentlicht am
18.03.2010
Redaktionell betreut durch
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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