A. Ryter: 1796. Eine Frau wird enthauptet

: 1796. Eine Frau wird enthauptet. Spurensicherung im Fall Margaritha Hürner. Muri 2000 : Cosmos Verlag, ISBN 978-3305003532 87 S. € 20,00

: Das aussergewöhnliche Langenthaler Jahrzehnt 1841–1851 der grossen Emma Seiler-Diruf (1821–1886).. . Langenthal 2000 : Stiftung zur Foerderung wissenschaftlicher und heimatkundlicher Forschung ueber Stadt und Gemeinde Langenthal, ISBN - 55 S.

Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anna Bähler

Im letzten Jahr erschienen zwei Bücher, die sich mit Frauenleben beschäftigen. Anita Ryter ging dem Leben der Thuner Kindsmörderin Margaritha Hürner nach, Max Jufer vertiefte sich in die Langenthaler Zeit der amerikanischen Musikpädagogin Emma Seiler-Diruf. Die Lebensläufe der beiden Frauen waren mit dem Bernbiet verbunden, hätten aber nicht unterschiedlicher sein können.

Margaritha am Stutz wurde 1764 in Bern getauft und verbrachte ihre Kindheit in einem Dorf in der Nähe von Thun. Als junge Frau arbeitete sie als Magd in Thun, wo sie ihren Mann, Rudolf Hürner, kennenlernte und gegen Ende der 1780er Jahre heiratete. Das einzige Kind, ein Sohn, starb noch als Säugling, die Ehe war durch ständige finanzielle Probleme belastet. Schon 1791 lebten die Ehepartner getrennt, Rudolf Hürner starb ein Jahr später, und Margaritha Hürner verdiente sich ihren Lebensunterhalt wieder als Magd. 1795 wurde sie schwanger, was sie jedoch verheimlichte. Erst kurz vor der Geburt schickte sie ihre Vermieterin zur Hebamme. Als diese etwa eine Stunde später eintraf, war das Kind schon geboren, lag aber mit Verletzungen leblos unter einer Decke. Die unglückliche Mutter geriet nun in die Mühlen der Justiz. Schon wenige Stunden nach der Geburt stand sie vor dem Chorgericht. Obwohl sie anfänglich abstritt, dem Kind Gewalt angetan zu haben, waren die Indizien offenbar erdrückend. Im zweiten Verhör am folgenden Tag gestand sie, das Kind getötet zu haben. Margaritha Hürner wurde daraufhin in den Zuchtturm gesperrt, etwas mehr als einen Monat später vom «Extra Raht und Burger der Stadt Thun» zum Tod durch Enthauptung verurteilt und nach knapp zwei weiteren Wochen in Thun hingerichtet.

Emma Diruf kam 1821 in Würzburg als Tochter eines Medizinalrates und königlichen Leibarztes zur Welt und verbrachte dort eine unbeschwerte Kinder- und Jugendzeit. 1842 heiratete sie den Lotzwiler Arzt Jakob Seiler. Gemeinsam mit ihm baute sie einen grossen Gutshof und eine ärztliche Praxis in Langenthal auf. Die verwöhnte Oberschichtstochter wurde ins kalte Wasser geworfen. Der grösste Teil der Führung des Gutsbetriebs lag in ihren Händen. Als Stadtkind musste sie sich das nötige Wissen dazu erst erarbeiten. Zudem unterstützte sie ihren Mann in der ärztlichen Praxis, indem sie die Apotheke übernahm. 1844 gebar sie eine Tochter, 1849 einen Sohn. In der Krisenzeit Ende der 1840er Jahre engagierte sich Emma Seiler-Diruf trotz ihrer Arbeitsbelastung in der Armenfürsorge. Auf ihrem Hof baute sie eine Art Kinderarbeitsschule auf. Sie gab armen, verwahrlosten Kindern zu essen, lehrte sie verschiedene Handarbeiten und sorgte für deren Verkauf. Während des Sonderbundskrieges beherbergte Emma Seiler-Diruf einige Male Soldaten und Offiziere, während einer Nacht sogar General Dufour. Die Ehe mit Jakob Seiler verlief unglücklich, da dieser die familiären Finanzen nicht im Griff hatte. Der Besitz musste verkauft werden, Jakob Seiler setzte sich nach Übersee ab, seine Frau und die Kinder sahen ihn nie mehr. Die Ehe wurde 1851 getrennt und 1857 geschieden. Nach der Tilgung der Schulden verliess auch Emma Seiler-Diruf Langenthal. In Deutschland und später in den USA machte sie eine Karriere als Musikpädagogin. 1891 – fünf Jahre nach ihrem Tod – nahm die Amerikanische Philosophische Gesellschaft in Philadelphia ein Porträt Emma Seiler-Dirufs in ihre Ruhmeshalle auf.

Beim Vergleich der beiden Frauenleben lässt sich eine inhaltliche Gemeinsamkeit ausmachen: Beide Frauen waren mit Männern verheiratet, die nicht mit Geld umgehen konnten, und beide Ehen scheiterten. Ansonsten stehen Welten zwischen den beiden Frauen.

Dass wir über Margaritha Hürner überhaupt etwas erfahren, ist eigentlich Zufall und nur dem Engagement der jungen Autorin Anita Ryter zu verdanken, der es gelungen ist, eine originelle und – trotz der bedrückenden Themen Kindsmord und Hinrichtung – lebendige Darstellung ihres Lebens zu schreiben. Als Seminaristin belegte Anita Ryter das Pflichtwahlfach Geschichte und erhielt Gelegenheit, in einem Archiv zu stöbern. Zufällig stiess sie auf die Notiz «Kindsmörderin Hürner enthauptet», die sie nicht mehr los liess. Akribisch suchte sie im Burgerarchiv Thun und im Kirchgemeindearchiv Sigriswil alle Hinweise zu Margaritha Hürner und zu ihrem Umfeld zusammen, die schliesslich so zahlreich waren, dass sie die Biografie und vor allem die Zeitspanne um Tat und Hinrichtung erstaunlich genau rekonstruieren konnte. Für ihre Arbeit wurde Anita Ryter von «Schweizer Jugend forscht» mit dem Prädikat «hervorragend» ausgezeichnet.

Ihr Werk liegt in Form eines ausgesprochen schön aufgemachten und mit reichlich Abbildungen versehenen Buches vor. In der Einleitung und zum Schluss erläutert die Autorin ihre Motivation und Arbeitsweise. Im ganzen Buch scheint ihre Freude an der Arbeit mit den Quellen durch und springt auf die Lesenden über. Häufig zitiert sie aus den Originalquellen, wechselt manchmal sogar mitten im Satz in ein Quellenzitat, was gelegentlich den Lesefluss etwas beeinträchtigt. Es ist auch nicht immer klar, was den Quellen sowie der verwendeten Sekundärliteratur entnommen ist und was eher der Fantasie der Autorin entspringt, so zum Beispiel, wenn sie auf den Gemütszustand ihrer Hauptfigur eingeht. Trotzdem ist die Lektüre des Buches sehr empfehlenswert. Einerseits ist das Leben und Sterben der Margaritha Hürner ausgesprochen spannend dargestellt. Andererseits gelingt es aber Anita Ryter auch, den Einzelfall in den Zusammenhang zu stellen, indem sie immer wieder allgemein gehaltene Kapitel zu Themen wie Vaterschaftsgesetzgebung, Kindsmord oder Todesstrafe einflicht.

Verglichen mit der Biografie der Thuner Kindsmörderin hält sich die Beschreibung des Langenthaler Jahrzehnts der am Ende ihres Lebens bekannten Emma Seiler-Diruf an eine konventionellere Art der Lebensdarstellung. Der Autor Dr. Max Jufer spart nicht mit bewundernden, Emma Seiler-Diruf explizit aus dem Mittelmass heraushebenden Ausdrücken, und auch er spekuliert über die Gemütszustände seiner Heldin. Er bleibt jedoch meist nah an der Lebensbeschreibung. Damit erfahren wir nicht nur Interessantes aus dem Leben der Emma Seiler-Diruf, sondern auch ganz allgemein einiges über den Tages- und Jahresablauf und die Pflichten und Lasten im Leben der Frau eines Gutsbesitzers zur damaligen Zeit. Manchmal wäre jedoch ein kleiner Exkurs zum besseren Verständnis wünschbar, so zum Beispiel im Kapitel «Emma Seiler als Apothekerin». Sie absolvierte eine staatliche Prüfung und konnte daraufhin in diesem Beruf tätig sein. Was bedeutete damals Apothekerin? Wie lässt sich dies im damaligen Berufsspektrum einordnen? Wieso war sie als Frau zu dieser Prüfung zugelassen? Das kleine Werk Max Jufers regt jedenfalls an, sich intensiver mit dem Leben einer aussergewöhnlichen Frau zu befassen.

Zitierweise:
- Anna Bähler: Rezension zu: Ryter, Anita: 1796. Eine Frau wird enthauptet. Spurensicherung im Fall Margaritha Hürner, Muri bei Bern, Cosmos Verlag, 2000, 87 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 63, Nr. 4, Bern 2001, S. 72ff.
- Anna Bähler: Rezension zu: Jufer, Max: Das aussergewöhnliche Langenthaler Jahrzehnt 1841–1851 der grossen Emma Seiler-Diruf (1821–1886), Langenthal, Stiftung zur Förderung wissenschaftlicher
und heimatkundlicher Forschung über Stadt und Gemeinde Langenthal, 2000
(Langenthaler Heimatblätter, Sonderband), 55 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 63, Nr. 4, Bern 2001, S. 72ff.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 63, Nr. 4, Bern 2001, S. 72ff.
- Anna Bähler: Rezension zu: Jufer, Max: Das aussergewöhnliche Langenthaler Jahrzehnt 1841–1851 der grossen Emma Seiler-Diruf (1821–1886), Langenthal, Stiftung zur Förderung wissenschaftlicher
und heimatkundlicher Forschung über Stadt und Gemeinde Langenthal, 2000
(Langenthaler Heimatblätter, Sonderband), 55 S., ill.

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