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Titel
Entzweiung. Die Krise der Ehe um 1900


Autor(en)
Arni, Caroline
Erschienen
Köln 2004: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
415 s.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anna Bähler

Im letzten Jahr erschien die Dissertation von Caroline Arni, Historikerin und Soziologin an der Universität Bern, in Buchform. Das Thema ist spannend: Die Autorin versucht eine Rekonstruktion von Beziehungskulturen und Beziehungsproblematiken des Ehepaars in der Zeit um 1900. Damals forderten feministische und sozialistische Kreise eine Reform oder gar Revolution der Ehe. Dieser Diskurs erhielt besonders in der Schweiz eine gesellschaftspolitische Relevanz, denn hier stieg die Scheidungsrate an und lag weit über dem europäischen Durchschnitt.

In einer ausführlichen Einführung geht Arni grundsätzlich auf die Problematik der Ehe ein, die sich im Spannungsfeld zwischen individuellem Erleben und gesellschaftlicher Institution befindet. Ausserdem legt sie Fragestellungen und Intentionen ihrer Studie dar und stellt die verwendeten Quellen vor. Sie stützt sich auf Prozessdossiers zu Scheidungen am Amtsgericht Bern von 1912–1916, die es ihr dank deren Vollständigkeit erlauben, verschiedene Fälle akribisch genau nachzuvollziehen. Im Gegensatz zu den Jahren vor- und nachher sind aus diesem Zeitraum nicht nur die Protokolle der Gerichtsverhandlungen archiviert, sondern die Dossiers enthalten auch Fragmente des Alltagslebens wie zum Beispiel Familienkorrespondenz, Liebesbriefe oder Arbeitszeugnisse.

Das erste Kapitel befasst sich mit der Kodifizierung des Ehe- und Scheidungsrechtes in der Schweiz, also der rechtlichen Entwicklung und deren Einbettung in den zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Diskurs zum Thema Ehe. Damit schafft Arni die Voraussetzungen zum besseren Verständnis der in den Kapiteln 2–5 exemplarisch dargestellten vier Scheidungsprozesse, welche sie aus den 479 Fällen auswählte, die in den Jahren 1912–1916 vor das Scheidungsgericht des Amtes Bern kamen. Darunter befinden sich die ursprünglich aus Russland stammende Sozialistin Rosa Grimm und ihr Mann, der Berner Sozialdemokrat Robert Grimm; dieses Paar scheiterte im Alltag mit seinem Anspruch einer kameradschaftlichen Ehe. Die drei andern Fälle sind nicht weniger interessant und betreffen Ehepaare aus diversen sozialen Milieus. Die Arztfrau Madeleine Frey wird mit fortschreitender Karriere ihres Mannes Emil Frey immer mehr aus dessen Berufsalltag hinausgedrängt, was die Eheleute schliesslich so stark voneinander entfremdet, dass die Scheidung unausweichlich wird. Der Arbeiter Johann Probst hingegen erträgt nicht, dass der Lebensunterhalt seiner in instabilen ökonomischen Verhältnissen lebenden Familie zumindest zeitweise von seiner Frau bestritten wird, die als Kellnerin arbeitet. Es ist jedoch Anna Probst, welche die Scheidung verlangt. Als Grund macht sie geltend, ihr Ehemann kränke, misshandle und bedrohe sie. Die Ehe von Clara und Henri Dubois-Tobler aus bürgerlichem Milieu wiederum zerbricht, weil sich die Ehefrau zwar keinen Ehebruch, doch immerhin einen Flirt mit einem reichen Verehrer aus Genf leistet, worauf der Ehemann die Scheidungsklage einreicht: wegen Ehrenkränkung und tiefer Zerrüttung der Ehe.

Arni beschränkt sich bei weitem nicht auf eine blosse Beschreibung der Scheidungsfälle, sondern sie interpretiert die verschiedenen Aussagen in den Prozessakten, vergleicht sie mit ähnlich gelagerten Fällen und ordnet sie in ihr Umfeld ein. In den Einzelgeschichten sucht sie die Ursachen der «Krise der Ehe», indem sie die individuellen Schicksale mit dem gesellschaftlichen Wandel verknüpft. Dabei betrachtet sie die Ehe als «ein dynamisches Relais von Geschlechterpolitik und Geschlechterbeziehung, als ein politisches Problem und als eine biographische Erfahrung» (S. 9).

Arnis Werk ist nicht leicht lesbar, denn sie pflegt – besonders in der inhaltlich hoch interessanten Einführung – eine mit Fremdwörtern gespickte wissenschaftliche Sprache. Ich erlaube mir an dieser Stelle eine persönliche Bemerkung: Es ist anzunehmen, dass ein beträchtlicher Teil der Leserschaft die Einführung nach wenigen Sätzen oder Seiten überspringt und die Lektüre auf die folgenden Fallbeispiele beschränkt, die den Blick durchs Schlüsselloch ins Private ermöglichen, auch wenn dies nicht in der Absicht der Autorin liegt. Es stellt sich hier die Frage, wie sinnvoll es ist, wissenschaftliche Bücher in einem Stil zu schreiben, der einen Teil der potenziellen Leserschaft ausschliesst. Gut geschriebene Fachliteratur kann auch auf sprachlicher Ebene Genuss bieten – und dies tut diese Publikation leider über weite Strecken nicht.

Zitierweise:
Anna Bähler: Rezension zu: Arni, Caroline: Entzweiungen. Die Krise der Ehe um 1900, Köln, Böhlau Verlag, 2004. 415 S. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 67, Nr. 1, Bern 2005, S. 71f.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 67, Nr. 1, Bern 2005, S. 71f.

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