M. Feldmann: Tagebuch 1923-1958

Titel
Tagebuch 1923-1958. Bearbeitet von Peter Moser


Autor(en)
Feldmann, Markus
Reihe
Quellen zur Schweizer Geschichte, Neue Folge, 3. Abteilung, Briefe und Denkwürdigkeiten, Bd. 13
Erschienen
Basel 2002: Krebs
Anzahl Seiten
Preis
ISBN
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Es ist eher selten, dass ein Tagebuch bereits Reaktionen provoziert, bevor es überhaupt veröffentlicht ist. Genau das ist beim Feldmann-Tagebuch der Fall. Als Bundesrat Max Petitpierre 1961 von seiner Existenz erfuhr, verfasste er vorsorglich ein «Memorandum» zur nachträglichen Rechtfertigung seiner eigenen Positionen in der Neutralitätspolitik, dem Bereich, in dem er im Bundesrat mit Markus Feldmann harte Auseinandersetzungen austrug.

Auch andere waren alarmiert, und zwar im Zusammenhang mit der Nichtwahl Feldmanns in den Bundesrat als Nachfolger Rudolf Mingers am 10. Dezember 1940. Zwei Nationalräte der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB) hatten schon am 18. September 1945 nach einer Diskussion in der Fraktion bei der Bundesanwaltschaft protestiert, bei der Wahl Eduard von Steigers (und der Nichtwahl Feldmanns) hätte die deutsche Gesandtschaft ihre Finger im Spiel gehabt. 1945 begann – nach Beseitigung der aussenpolitischen Gefahr – die Zeit der Abrechnung mit tatsächlichen und vermeintlichen Anpassern an die grossdeutsche Ideologie. Feldmann erhielt durch den Bundesanwalt umgehend Kenntnis von dieser rechtfertigenden Stellungnahme der BGB-Fraktion und bezeichnete sie im Tagebucheintrag vom 15. Dezember 1945 als «Geschichtsfälschung». Davon erhielt alt Nationalrat Reichling 1969 Kenntnis, als Rudolf Maurer, der erste Biograf Feldmanns, den Aufsatz «Die Doppelersatzwahl in den Bundesrat Ende 1940» publizierte. Nach einem heftigen Briefwechsel mit Maurer verlangte Reichling Einblick ins Tagebuch – das nach dem Tod Feldmanns von den Erben im Bundesarchiv deponiert worden war –, um sich und die BGB gegen den Vorwurf der Geschichtsfälscherei verteidigen zu können, was ihm Hans Feldmann, der Sohn des Bundesrates, verweigerte. Das hatte eine doppelte Folge: Erstens eine von 1969 bis 1972 dauernde intensive Diskussion in der BGB über die «historische Wahrheit», konkret über die Haltung der BGB bei der Wahl von Steigers. Zweitens eine 1973 vom Bundesarchivar verfügte Zugangssperre zum Tagebuch. Dies führte dazu, dass der zweite Teil der Feldmann-Biografie bis heute nicht geschrieben wurde. Hans Feldmann musste das Bundesgericht anrufen, das ihm gegen Bundesarchiv, Bundeskanzlei und Bundesrat nach Jahren wieder die fast uneingeschränkte Verfügung über sein Eigentum verschaffte und die Publikation des Tagebuches ermöglichte. Diese spannend-groteske Publikationsgeschichte wird in der Einleitung zu Band 6 (S. 50–63) dargelegt.

Was bietet nun die Lektüre des Tagebuchs den historisch Interessierten? Zunächst fordert sie ihm viel Geduld ab. Denn das Tagebuch ist nicht einfach das, was wir uns gemeinhin darunter vorstellen: Rechenschaftsablage über das Tagewerk, rückschauende Betrachtung des eigenen Tuns und Beobachtung und Refl exion der Zeitereignisse. Feldmanns Tagebuch, das in gedruckter Form ohne Einleitung und Register rund 3300 Seiten zählt, ist heterogen zusammengesetzt: Es umfasst Hefte, Tausende von Karteikarten, A4-Blätter, Überarbeitungen nach ursprünglichen Tagebuch-Notizen, die Feldmann als «persönliche Erinnerungen» bezeichnete, und vieles mehr. Das Tagebuch war vor allem ein Arbeitsinstrument. Während des Krieges, als Feldmann Chefredaktor der «Neuen Berner Zeitung» war und das Auslandressort betreute, notierte er täglich mehrmals die einlaufenden Agenturmeldungen von den verschiedenen Kriegsschauplätzen. Diese Notizen verarbeitete er dann zu wöchentlichen Lageberichten. Hier mag die Frage erlaubt sein, ob es wirklich viel bringt, diese sich über die ganzen Kriegsjahre erstreckenden, minuziösen Aufzeichnungen über Kriegsereignisse und Frontbewegungen in extenso wiederzugeben. Sie sind heute ohne dokumentarischen Wert – im Gegensatz zu den Wochenberichten in der «Neuen Berner Zeitung», die von Gehalt und Qualität her ohne Weiteres mit den Texten Herbert Lüthys vergleichbar sind.

Weiter ist das Tagebuch Zeuge und Instrument von Feldmanns Arbeitsorganisation und -disziplin. Er bezeichnete die einzelnen Felder seiner Tätigkeit immer mit «Abschnitt». Er formulierte Monatsziele, listete Rückstände auf, notierte deren Abarbeitung und formulierte das tägliche Arbeitspensum.

Viel bietet das Tagebuch zur Geschichte der BGB. Es gibt Einblick in das mühsame Werden einer jungen Partei, die ihr Profil und ihre programmatische Ausrichtung nicht ohne Schwierigkeiten und nur mit Rückschlägen fand. Feldmann war 1921/22 kurze Zeit Parteisekretär der stadtbernischen Bürgerpartei und erlebte hier hautnah die Reibungsflächen zwischen den städtischen Konservativen und den bäuerlichen «Revolutionären» Rudolf Mingers. Von Steiger stand als Stadtberner Parteipräsident zwischen den Fronten und handelte sich bei Feldmann sofort den Ruf eines charakterlosen Opportunisten ein. Nach zwei verlorenen Stadtratswahlen (1923 und 1925) mied Feldmann den städtischen Fechtboden, baute seine Stellung als Redaktor aus und errang ab 1930 eine starke Position als Sekretär der BGB-Fraktion der Bundesversammlung und ab 1933 als Mitglied des leitenden Ausschusses der kantonalbernischen BGB. Aus dieser Position zog er 1935 in den Nationalrat ein.

Auf dem Feld der Aussenpolitik fühlte sich Feldmann am wohlsten. Seine Erfahrungen holte er sich als aussenpolitischer Redaktor der «Neuen Berner Zeitung» und in seinem Kampf gegen die nationalsozialistischen Versuche, die Schweizer Presse gleichzuschalten. Dieser wesentliche Teil von Feldmanns Lebenswerk ist heute bereits gut bekannt durch die Darstellung Rudolf Maurers, der das Tagebuch in dieser Hinsicht ausgewertet hat. Dieser Kampf prägte Feldmanns aussenpolitische Konzeptionen. Für ihn war die Schweiz die auserwählte Nation; Staat, Armee und Neutralität waren die zentralen Orientierungspunkte. Die Neutralität verstand er als Wert an sich, als Ausdruck ursprünglicher Schweizer Tugend, die er den Ambitionen aller Grossmächte gegenüberstellte. Er misstraute der Sowjetunion gleich wie dem Dritten Reich und den USA. Kein Wunder, dass Feldmann im Bundesrat mit Max Petitpierre zusammenstiess, für den die Neutralität ein Instrument der Aussenpolitik war, das auch die Verpflichtung zur Solidarität mit sich brachte. Die Frage, ob die Schweiz Beobachter stellen sollte, um den Waffenstillstand in Korea zu überwachen, zeigte die konträren Positionen überdeutlich: Feldmann war dagegen, da er fürchtete, die Schweiz werde zum Spielball der Grossmächte. Petitpierre befürwortete die Mission, weil Neutrale ihre internationale Mitverantwortung auch zum Preis von Risiken tragen müssten.

Die Aufzeichnungen Feldmanns bieten faszinierende Einblicke in den Alltag
schweizerischer Machtausübung und Regierungspraxis, an der Feldmann – teils als Akteur, teils als kritischer und selbstkritischer Beobachter – beteiligt war. Dem älteren Zeitgenossen, der mindestens eine Spanne des im Tagebuch behandelten Zeitraums selbst erlebt hat, wird gelegentlich bewusst, wie sich die Mechanismen der Politik veränderten. Wenn sich heute ein neugewählter Bundesrat im Schutz von Bodyguards zur Departementsverteilung begibt, dann könnte der Kontrast zu den Fünfzigerjahren nicht grösser sein: Bundesräte führten hochpolitische Diskussionen im öffentlichen Verkehrsmittel auf dem Arbeitsweg. Der Schosshaldenbus wird als Ort politischen Austausches im Tagebuch acht Mal erwähnt! Gespräche, die wirklich unbelauscht bleiben sollten, führte Feldmann indessen «ambulando», entweder ums Parlamentsgebäude herum, zwischen Zeitglockenturm und Bärengraben oder im Bürgerhaus und im Bundeshaus. So kommen im Tagebuch das Anekdotische und das Lokalkolorit nicht zu kurz, was dem Lesevergnügen ausserordentlich förderlich ist. Allerdings stellt sich die Frage, ob eine so gewichtige Quellenpublikation nicht eines kommentierenden Apparates bedürfte, um die Edition einem historischen Laienpublikum leichter zugänglich zu machen.

Zum Personenregister schreiben die Herausgeber, die erwähnten Personen seien nach Möglichkeit identifi ziert worden. Dieser Anspruch wird nicht erfüllt, das Register lässt jede Systematik vermissen. So sind Nationalräte und Bundesräte einmal mit ihren Lebensdaten, einmal mit Lebensdaten und Amtsdaten, einmal nur mit Amtsdaten und gelegentlich ohne Daten (zum Beispiel Konrad Ilg) aufgelistet. Bei Armin Haller und Roger Schaffter wird unterschlagen, dass auch sie Nationalräte waren. Johann Jenny, ebenfalls Nationalrat, erhält dafür acht Zeilen Kurzbiografie. Läppisch sind Einträge wie «Kobelt, Ehefrau von Karl Kobelt». Karl Bretscher wird verzeichnet als «Bretscher K., Direktor Hasler AG». Dabei war er im Zeitpunkt, in dem er im Tagebuch auftaucht, bereits Direktor der Wifag. Beim Lemma «Schenk Karl» wird auf den Tagebucheintrag vom 21. Oktober 1942 verwiesen. Schlägt man dort nach, landet man beim Karl-Schenk-Haus in Bern. Dass der Gymnasiallehrer Karl Wyss und der Lehrersekretär Karl Wyss ein und dieselbe Person sind, wäre auch nicht so schwer festzustellen gewesen. Ausserdem sind viele Genannte nicht näher identifiziert.

Leider weist auch das Sachregister Mängel auf. So fi ndet man etwa unter dem Oberbegriff «Parteien» die Stichworte «Bürgerliche», «Funktion und Bedeutung» und anderes. Die einzelnen Parteien aber sind unter ihren Namen zu suchen. Viele Stichwörter sind aufgebläht und hätten einer Unterteilung bedurft, etwa «Neue Berner Zeitung / Redaktion» oder «Bundesrat als Kollegialbehörde». Wichtiges fehlt, so die Stichworte zur Tätigkeit Feldmanns als bernischer Regierungsrat. Diese Mängel am Apparat erschweren die Benutzung des Tagebuchs. Es ist nicht akzeptabel, dass bei der Herausgabe eines so gewichtigen und hoch subventionierten Werks dermassen unsorgfältig gearbeitet wurde. Zum Glück – und das relativiert die an den Registern vorgebrachte Kritik etwas – ist dem Werk eine CD beigegeben, die den vollständigen Text des Tagebuches enthält, inklusive die nicht mitgedruckten Aufzeichnungen aus den Jahren 1915 bis 1919. Abkürzungsverzeichnis, Personen und Sachregister, Vorwort und Einleitung sowie weiteres Material sind eben - falls auf der CD im PDF-Format greifbar. Die Suche erfolgt nach dem Datum der Tagebuch einträge und nicht etwa nach Seitenzahlen, was sich als sehr praktisch erweist.

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Feldmann, Markus: Tagebuch 1923–1958. Bearbeitet von Peter Moser, Basel, Krebs, 2001–2002 (Quellen zur Schweizer Geschichte, Neue Folge, 3. Abteilung, Briefe und Denkwürdigkeiten, Bd. 13), 6 Bde. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 66, Nr. 4, Bern 2004, S. 224ff.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 66, Nr. 4, Bern 2004, S. 224ff.

Weitere Informationen