C. Merki: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895–1930

Cover
Titel
Der holprige Siegeszug des Automobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Strassenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz


Autor(en)
Merki, Christoph Maria
Erschienen
Wien 2002: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
471 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anna Bähler

Christoph Maria Merki, ehemaliger Oberassistent an der Universität Bern und 1992–1997 Vorstandsmitglied des Historischen Vereins, veröffentlichte 2002 seine Habilitationsschrift, die im Jahr zuvor von der Universität Bern angenommen worden war. Sein Thema ist vordergründig ein technikgeschichtliches, das er jedoch von einem gesellschaftsgeschichtlichen Ansatz her betrachtet. Merki analysiert in seinem Werk facettenreich und mit viel Detailkenntnis die sozialen, aber auch politische und rechtliche Folgen der Automobilisierung. Über 40 Abbildungen sowie 30 Tabellen, in denen er umfangreiches Zahlenmaterial liefert, ergänzen den Text. In der Einleitung – Merki betitelt sie mit «Ausrüstung und Reiseskizze» – stellt er seine Fragestellung vor, geht auf methodische Aspekte ein und rekapituliert Forschungsstand und Quellenlage. Das erste Kapitel beschreibt den Diffusionsprozess des Automobils, der in Frankreich schneller verlief als in der Schweiz. Deutschland bildete während des ganzen Untersuchungszeitraums das Schlusslicht. Merki betont allerdings, dass die Unterschiede innerhalb der einzelnen Länder beträchtlich waren. So war die Differenz im Motorisierungsgrad zwischen Paris und Korsika grösser als zwischen Paris, Berlin oder Zürich. In einer ersten Phase, die bis zum Ersten Weltkrieg dauerte, war die Technik noch wenig ausgereift. Deshalb diente das Automobil vorerst einer kleinen, vermögenden Gesellschaftsschicht als neues, aufregendes Sportgerät und exklusives Fortbewegungsmittel im Nahverkehr. Somit konkurrenzierte das Auto in dieser frühen Phase nicht die Eisenbahn, sondern die Kutsche. Angehörige einiger Berufsgruppen, wie zum Beispiel Ärzte oder Handelsreisende, begannen schon bald, ihre Autos zu Berufszwecken einzusetzen. Damit entwickelte sich das Fahrzeug auch zu einem Arbeitsgerät.

Nicht nur Kutschen liessen sich motorisieren, sondern auch Pferdefuhrwerke, die grosse Lasten transportierten. Es war die Schweiz, die in der Verbreitung der Lastautos eine Vorreiterrolle spielte: Sie besass schon vor dem Krieg eine starke exportorientierte Lastwagenindustrie. In einem Exkurs beschäftigt sich Merki auch mit der Motorisierung des öffentlichen Verkehrs: Ab 1900 verdrängte das Taxi die Droschke; der Motoromnibus konkurrenzierte zunehmend den Pferdeomnibus und teilweise die Strassenbahn. Die Zwanzigerjahre brachten auf den Strassen einen Motorisierungsschub. Die Herstellung und der Betrieb der Automobile verbilligte sich. Damit wurde der Privatwagen für immer mehr Haushalte und Unternehmen erschwinglich. Kleingewerblern, Angestellten und Arbeitern ermöglichte zudem das Motorrad einen Einstieg in den motorisierten Verkehr.

Die Verbreitung des Automobils verlief in einem Spannungsfeld zwischen Förderung und Widerstand. Beim nichtmotorisierten Publikum stiess das Automobil auf Ablehnung: Es brachte Unfälle, Staub, Lärm und Gestank mit sich, die Strasse verwandelte sich in eine vom Auto dominierte Fahrbahn, und die ersten Autofahrer wurden weithin als städtisch, fremd und elitär wahrgenommen. Die Formen des Widerstandes waren vielfältig und reichten vom stillen Protest über Nägelstreuen bis zum Spannen eines Seils quer über die Fahrbahn – eine potenziell tödliche Autofalle. Interessant sind in diesem Zusammenhang die länderspezifischen Reaktionsunterschiede: In Deutschland, wo die Motorisierung zögerlicher verlief, hielt sich der Widerstand länger als in Frankreich und nahm zudem gewalttätigere Formen an. In einem 20-seitigen Kapitel behandelt der Autor ausserdem das Automobilverbot im Kanton Graubünden, das bis 1925 in Kraft war. In der Zwischenkriegszeit verschwand der Widerstand allmählich. Merki erklärt diesen Prozess damit, dass sich die nichtmotorisierten Strassenbenützerinnen und -benützer nach und nach an den Autoverkehr gewöhnten und sich ihm anpassten. Der öffentliche Verkehr und die Einführung von Fahrzeugsteuern, die als Entgelt für die Strassenbenutzung angesehen wurden, versöhnten zudem viele Menschen mit dem Auto.

Merki analysiert umfassend die Mechanismen, die dem Automobil zum Durchbruch verhalfen – ein Thema, das die bisherige Literatur meist vernachlässigt hatte. Demnach entwickelte sich der Automobilismus nicht, indem die Industrie ihr Produkt an jene Leute verkaufte, die es sich leisten konnten, sondern Merki interpretiert den Automobilismus als soziale Bewegung, die eine Fahrzeugindustrie erst entstehen liess. Die frühen Autofahrer empfanden sich als Teil einer verschworenen Gesellschaft und einer speziellen Lebenswelt, die ab 1895 expandierte. Die Automobilclubs pflegten dieses Gemeinschaftsgefühl und widmeten sich der Förderung des motorisierten Verkehrs, indem sie zum Beispiel die Akzeptanz des Automobils über publikumswirksame Events wie Autorennen steigerten. Daneben entstanden weitere Interessenorganisationen wie Motorradklubs und Autoverbände, deren Spezialwissen für den Staat mit der Zeit unentbehrlich wurde.

Mit der Motorisierung wurden die Strassen für alle Benutzerinnen und Benutzer gefährlicher, die Kraftfahrzeuge entwickelten sich von einer Gefahr zu einem Risiko. Der Staat war gefordert, er musste politische Leitplanken setzen. Diesem Aspekt widmet sich Merki in den letzten beiden Kapiteln. Um die Sicherheit zu erhöhen, begann der Staat mit der Regulierung des Strassenraums, indem er beispielsweise den Strassenraum den neuen Verkehrsmitteln anpasste oder Verkehrsregeln aufstellte. Über Steuern versuchten die Behörden, zumindest einen Teil der finanziellen Belastung auf den motorisierten Verkehr abzuwälzen.

Merki schliesst mit seinem Werk eine Lücke, indem er sich mit dem Zeitraum bis 1930 beschäftigt, der bis anhin in der Forschung zur Automobilisierung stiefmütterlich behandelt worden ist. Sehr aufschlussreich ist dabei der Vergleich der drei Länder Frankreich, Schweiz und Deutschland, da der Diffusionsprozess nicht überall gleich verlief und unterschiedliche Reaktionen hervorrief. Das Buch ist klar aufgebaut, interessant illustriert und unterhaltsam geschrieben. Es eignet sich trotz seines anspruchsvollen Inhalts durchaus als vergnügliche Ferienlektüre.

Zitierweise:
Anna Bähler: Rezension zu: Merki, Christoph Maria: Der holprige Siegeszug des Automobils 1895–1930. Zur Motorisierung des Strassenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien, Böhlau, 2002, 471 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 66, Nr. 1, Bern 2004, S. 50ff.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 66, Nr. 1, Bern 2004, S. 50ff.

Weitere Informationen