E. Flückiger: Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie

Titel
Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie. Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Flückiger Strebel, Erika
Erschienen
Zürich 2002: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
427 S.
Preis
€ 43,90
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Das Werk ist eine leicht überarbeitete Fassung einer im Jahr 2000 an der Universität Bern von den Professoren Martin Körner und Christian Pfister angenommenen Dissertation. Es erschien im Chronos Verlag, der bereits eine Reihe von Untersuchungen zum Forschungsfeld Armenfrage/Sozialstaat im schweizerischen Raum editorisch betreut hat.

Die Frage, wie viel der Sozialstaat kosten darf, ist äusserst aktuell. Sie war schon ein Thema des 18. Jahrhunderts. Die Autorin untersucht die Entwicklung und Ausgestaltung der Armenfürsorge-Strukturen des bernischen Staates im 18. Jahrhundert. Sie tut dies in drei Schritten. Der erste Teil der Untersuchung ist der gesamtstaatlichen Darstellung der Armenfürsorge gewidmet. Im Zentrum steht die Almosenkammer, die ab 1672 für die Koordination der staatlichen Armenfürsorge zuständig war. Der zweite Teil gilt der Vollzugsebene der Armenfürsorge, der Landvogtei. Der dritte Teil lenkt den Blick auf die Armenversorgung der Berner Landgemeinden. Für die Teile zwei und drei – und das ist einer der interessanten Aspekte der Studie – hat Erika Flückiger exemplarisch die Verhältnisse in den seeländischen Landvogteien Nidau und Büren aufgearbeitet. Im Zentrum der Analyse steht der Archivalienbestand der Almosenkammer im Staatsarchiv, den die Autorin für die Jahre 1730–1732 und 1780–1782 qualitativ und quantitativ auswertete. Quantitativ erhob sie für die beiden Querschnitt-Jahresgruppen die Unterstützungsbewilligungen und Direktzahlungen der Kammer an Unterstützungsbedürftige in einer Datenbank (Angaben zur unterstützten Person, Lebensumstände, Herkunft, Wohnort, Unterstützungskriterien, Unterstützungsleistung). Als qualitative Merkmale erfasste sie alle Erläuterungen und Berichte der Almosenkammer, die über den Standardtext einer Unterstützungsentscheidung hinausgingen. Dazu kamen zwischen 1730 und 1797 weitere Kammergeschäfte und -entscheide, die einen vertieften Einblick in die Verfahrensweise, Entscheidungskompetenzen und Argumentationsweisen der Behörden ermöglichten. Die Unterstützungen erfolgten immer zum Teil in Geld und zum Teil in Getreide. Um die Vergleichbarkeit zu ermöglichen, mussten die Geldleistungen in einheitliche Währung, die Naturalleistungen in einheitliche Mengen umgerechnet und Letztere noch kapitalisiert werden. Die Kapitalisierung entspricht den Getreidepreisen des Nidauer Marktes. Schliesslich wurden Geld- und Naturalleistungen noch in Kalorien umgerechnet. Der diesbezügliche Exkurs (S. 209–327) gewährt einen guten Einblick in die Werkstatt computergestützter Geschichtsforschung, sowohl in ihre Chancen als auch in ihre Risiken. Die Datensätze stehen dem Benutzer als Rohdaten wie auch als Produkte in Karten-, Grafik- oder Tabellenform auf einer CD-ROM zur Verfügung (mit Excel 95, Excel 2000, Acess 2000 lesbar), die ebenfalls den vollständigen Buchtext im PDFFormat enthält. Die Frage sei gestattet, ob die CD in 50 Jahren noch gelesen werden kann – beim Drucktext braucht diese Frage zum Glück nicht gestellt zu werden.

Armenfragen bilden regelmässig ein Kapitel von Ortsgeschichten. Diese Darstellungen sind aber meist einem mikrohistorischen Ansatz verpflichtet und behelfen sich mit exemplarischen Schilderungen etwa der Verdingverhältnisse. Hier füllt die Arbeit Flückigers eine Lücke, indem die Autorin Strukturen und Praxis der staatlichen Sozialpolitik Berns für alle drei Ebenen Gesamtstaat, Landvogtei und Gemeinde präzis und gesamtheitlich darstellt, auf der Ebene der Gemeinde etwa die Schaffung kommunaler Armengüter, die Armentelle als zentrale Finanzierungsart dieser Armengüter, Hintersassen-, Einzugs- und Heiratsgelder als weitere Finanzierungsarten, die Naturalleistungen in Form von Holz- und Getreidespenden, die Bereitstellung von Wohnraum, Verding, Kostgeld und Umgang. Verfasserinnen und Verfassern von Ortsgeschichten sei die Lektüre der Arbeit dringend empfohlen, nicht zuletzt auch wegen des umfassenden Literaturverzeichnisses.

Dank der empirischen Analyse der Entwicklung staatlicher Armenfürsorge liefert die Studie auch einen Beitrag zur Diskussion um die Gültigkeit des Modernisierungsansatzes, der, wie die Autorin betont, in den letzten Jahren einer breiten Kritik ausgesetzt gewesen ist.

Die Studie liest sich nicht leicht, wer sich aber durchbeisst, gewinnt interessante Erkenntnisse. Etwas weniger Redundanz und eine gewisse Straffung des Textes wäre wohl von Vorteil gewesen. Was soll man mit Sätzen anfangen wie: «Die Wahrnehmung des Umgangs durch die obrigkeitlichen Behörden war klar eine negative»? (S. 282). Ärgerlich ist die Konfusion in den Anmerkungen zum Kapitel 1 (Einleitung): Die Anmerkungen 4–63 sind im zugehörigen Anmerkungsteil (S. 327–333) immer unter der um zwei erhöhten Nummer nachzuschlagen, also unter 6–65. Ebenfalls ist zu bedauern, dass das Werk kein Namens- und Ortsregister enthält. Das kann durch die Suchfunktion der CD nur unzureichend ausgeglichen werden.

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Zwischen Wohlfahrt und Staatsökonomie. Armenfürsorge auf der bernischen Landschaft im 18. Jahrhundert, Zürich, Chronos Verlag, 2002, 427 S., ill., CD. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 66, Nr. 1, Bern 2004, S. 44f.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 66, Nr. 1, Bern 2004, S. 44f.

Weitere Informationen