G. Germann: Riviera am Thunersee im 19. Jahrhundert

Titel
Riviera am Thunersee im 19. Jahrhundert.


Herausgeber
Germann, Georg
Erschienen
Bern 2002: Stämpfli Verlag
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christoph Zürcher

Berner und Schweizer Patrizier sowie ausländische Adelige bewohnten und gestalteten im 19. Jahrhundert Schlösser und Gärten am Thunersee, darunter die Schadau bei Thun, die verschwundene Chartreuse, die Hünegg bei Hilterfingen und den ehemaligen Landvogteisitz Oberhofen. Diese Landsitze stehen im Mittelpunkt des grossartigen Bandes, den Georg Germann, ehemaliger Direktor des Bernischen Historischen Museums, und die Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte herausgegeben haben. Die Porträts dieser vier Landsitze stehen stellvertretend für viele andere. An ihren Schicksalen wird exemplarisch dargestellt, wie sich die Thunerseegegend zur «Riviera» entwickelte, zur dauernden oder saisonalen Wohnstätte von einheimischem und ausländischem Adel sowie zum Reiseziel von Literaten, Malern, Gelehrten und Musikern. Die Darstellungen und Berichte dieser Personen schufen erst das romantische Bild des Berner Oberlandes, das Grundlage der heutigen Tourismusregion ist. Von Georg Germann stammt die umsichtige Einleitung ins Thema und eine umfassende Darstellung und Deutung des Wocher-Panoramas in Thun. Es ist 1808–1814 in Basel entstanden. Wocher selbst stellte es bis zu seinem Tod 1830 dort aus. Es gehört nicht zu den grossen europäischen Panoramen des 19. Jahrhunderts, spielte aber eine wichtige Rolle in der Propagierung der Thunersee-Riviera.

Die Chartreuse bei Hünibach, ursprünglich im Besitz des Klosters Interlaken,
wurde 1896 von Freiherr Moritz Kurt von Zedtwitz und seiner Frau erworben, die oberhalb der alten Chartreuse einen prunkvollen Neubau im Stil der nordischen Renaissance ausführen liessen. 1933 wurde der Palast von einem Konsortium erworben, des Mittelbaus beraubt, der Park parzelliert, mit Einfamilienhäuschen überbaut und die Palastruine schliesslich abgebrochen. Dieses unrühmliche Ende des geschichtsträchtigen Landsitzes führte zur Gründung des Uferschutzverbandes Thunerund Brienzersee, in dessen Jahrbuch von 1954 Adolf Schaer-Ris erstmals das Schicksal der Burgen und alten Landsitze am Thunersee in einer Gesamtschau darstellte und einen eindringlichen Appell zu ihrer Erhaltung lancierte. Allerdings waren die Bauten des 19. Jahrhunderts für Schaer-Ris Fremdkörper in der Thunerseelandschaft: «Eine aus der Landschaft protzig herausgefallene Architektur, gemischt aus englischer Tudorgotik und französischer Frührenaissance», war zum Beispiel seine Beurteilung der Schadau.

Der Schadau sind zwei ausgezeichnete Beiträge von Johanna Strübin Rindisbacher gewidmet. Im ersten wird die Bauherrenfamilie de Rougemont vorgestellt, die zu den interessantesten Familien gehört, die sich an der Thunersee-Riviera aufgehalten haben. Sie stammten aus Neuenburg, waren später in Murten und Bern verburgert, machten ihr sagenhaftes Vermögen mit Bankgeschäften in Paris, betätigten sich als Mäzene und Sammler und setzten mit der mondänen neuen Schadau Massstäbe für das internationale adelige Milieu, das sich am Thunersee mit Residenzen etablierte. Die heutige Schadau steht an Stelle des 1638 von Franz Ludwig von Erlach erbauten Schlosses, das 1837 von Abraham Denis Alfred de Rougemont erworben und 1847–1852 durch einen prunkvollen und teuren Neubau im «französischen Stil» ersetzt wurde. Im zweiten Beitrag klärt Strübin Rindisbacher die vertrackte Projektierungs- und Baugeschichte und kann aufgrund von bisher unbekannten Plänen und Materialien die Ansicht korrigieren, wonach der Pariser Architekt Pierre-Charles Dusillion die Schadaupläne gezeichnet habe. Tatsächlich stammt der Entwurf vom Neuenburger Architekten James Victor Colin.

Georg Germann stellt das Schloss Oberhofen vor, das heute eine Filiale des Bernischen Historischen Museums ist. Das Schloss war 1652–1798 bernischer Vogteisitz, ging 1801 an die Thuner Knechtenhofer, eine aufsteigende Bürgerfamilie, die wenig später Entscheidendes zum Aufschwung des Riviera-Tourismus beitrug. Sie retteten das Schloss Oberhofen vor dem Abriss. 1844 wurde es an die Grafen von Pourtalès verkauft. Am Umbau des alten Landvogteisitzes zum historisierenden Wohnschloss des 19. Jahrhunderts war auch James Victor Colin, der Architekt der Schadau, beteiligt. Germann rekonstruiert minutiös die Umbaugeschichte von Oberhofen, vor allem anhand der Akten des Schlossarchivs.

Franziska Kaiser stellt die Hünegg vor, die keinen Vorgängerbau hatte. Ein historischer Bezug zur Thunerseegegend wurde glücklich gefunden, als bei der Vorbereitung des Terrains für den Bau 1860 bronzezeitliche Gräber entdeckt wurden, die man damals als «Hünengräber» bezeichnete. Die irrige Ansicht, die Pläne für den Schlossbau seien von Pariser Architekten ausgearbeitet worden, hielt sich sehr lange. Der Architekt Heino Schmieden (1835–1880) stammte jedoch aus Berlin. Die örtliche Bauleitung übte der Thuner Friedrich Hopf (1817–1883) aus, der Verbindungen zur Berliner Schinkel-Schule hatte.

Alle vier vorgestellten Landsitze verfügen über grossartige Parkanlagen, die auf das Repräsentationsbedürfnis der neuenburgisch-preussischen Familien am Thunersee zurückgehen. Sie werden im vorliegenden Band erstmals kompetent durch den Gartenhistoriker Steffen Roth beschrieben. Er beschreibt die Anlage der Gärten, zeichnet ihre Entwicklung nach und macht die höchst interessanten in- und ausländischen Stileinflüsse deutlich. Mit diesem Einbezug der Gartenanlagen werden die Landsitze auch als das ins Licht gerückt, was sie sind: Gesamtkunstwerke, die in Lage, Architektur, Ausstattung und Parkumgebung aufs Intensivste ihre Zeit spiegeln.

Unzählige illustre Gäste suchten an der Thunersee-Riviera Erholung, bereicherten das gesellschaftliche Leben und liessen sich zu künstlerischen Werken inspirieren. Um nur einige Namen in Erinnerung zu rufen: Kleist, Schopenhauer, Madame de Staël, Lord Byron und William Turner. Sie dürfen in diesem Band nicht fehlen, und es war eine gute Idee, stellvertretend für viele andere, die Aufenthalte der Musikerfamilie Spohr am Thunersee im Sommer 1816 und im Frühling 1817 zu schildern. Der Geiger, Komponist und Dirigent Louis Spohr (1784–1859) reiste zwischen 1807 und 1820 an der Seite seiner ersten Frau, der Harfenistin und Pianistin Dorette Scheidler, durch ganz Europa und war bis in die 1840er-Jahre einer der berühmtesten Musiker seiner Zeit. Danach geriet er in Vergessenheit. Heute erfreuen sich seine Kompositionen wieder grösserer Wertschätzung. Brigitte Bachmann-Geiser zeichnet anhand der Autobiografie Spohrs die Aufenthalte mit seiner Familie im Haus «auf der Egg» bei Thierachern nach.

Hans-Anton Ebener stellt die Geschichte der Dampfschifffahrt auf den Oberländer Seen dar. Das Dampfschiff war vor der Eisenbahn das einzige Transportmittel, das Reisende in grösserer Zahl und in angemessener Zeit transportieren konnte. Deshalb ist der Aufschwung des Fremdenverkehrs aufs Engste mit diesem Transportmittel verbunden, umso mehr als die linksufrige Thunerseestrasse erst zwischen 1830 und 1840 durchgehend bis Interlaken ausgebaut und die rechtsufrige sogar erst nach 1870 erstellt wurde.

Einen äusserst wertvollen Beitrag leistet der bekannte Fachmann für Hotelbauten, Roland Flückiger-Seiler. Er würdigt Thun als erstes Zentrum des Berner Oberländer Fremdenverkehrs, rückt die Leistungen der Familien Knechtenhofer und Rüfenacht ins Licht und schildert das Ende der Thuner Tourismusblüte, verursacht durch den Bau der Eisenbahnen, die den Umschlagplatz Thun obsolet machten. In Text und Bildern werden dann die wichtigsten Hotelbauten an der rechtsseitigen «Riviera» von Thun über Hilterfingen, Oberhofen, Gunten/Sigriswil, Merligen bis Beatenberg vorgestellt. Eine praktische Übersichtstabelle rundet den Beitrag ab.

Das schöne Werk ist auch eine Hommage an jene, die mitgeholfen haben, das bedeutende Kulturerbe der «Thunersee-Riviera» zu erhalten. Die Publikation basiert auf wissenschaftlichen Recherchen und enthält auch eine ausgezeichnete Bibliografie. Alle Beiträge sind leicht lesbar und der ganze Band ist überdurchschnittlich schön illustriert und gestaltet. Kurz: ein Buch, in das man sich vertiefen kann, um sich zu informieren oder um sich an den Bildern zu erfreuen.

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Germann, Georg (Hrsg.): Riviera am Thunersee im 19. Jahrhundert, Bern, Stämpfli, 2002. 216 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 64, Nr. 4, Bern 2002, S. 206ff.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 64, Nr. 4, Bern 2002, S. 206ff.

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