D. Brodbeck: Hunger nach Gerechtigkeit

Titel
Hunger nach Gerechtigkeit. Helene von Mülinen (1850–1924), eine Wegbereiterin der Frauenemanzipation


Autor(en)
Brodbeck, Doris
Erschienen
Zürich 2000: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Anna Bähler

Im Rahmen ihrer Dissertation an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern hat Doris Brodbeck das Leben der bedeutenden Schweizer Frauenrechtlerin Helene von Mülinen aufgearbeitet. Dabei stützt sich die Autorin nicht nur auf die zahlreichen Publikationen Helene von Mülinens, sondern untersucht auch deren umfangreichen Briefwechsel mit verschiedenen Persönlichkeiten. Im Zentrum steht die Frage, welche persönlichen und intellektuellen Beweggründe Helene von Mülinen zu ihrem Engagement motiviert haben.

Die Autorin beschreibt im ersten Teil des Buches die Herkunft, die Erziehung und den Werdegang Helene von Mülinens. Diese erhielt zwar als Tochter einer Berner Patrizierfamilie eine breite Bildung, ihr Wunsch nach einem Studium blieb jedoch unerfüllt, da dies nicht mit ihrem gesellschaftlichen Stand zu vereinbaren war. Selbst als längst erwachsene Frau durfte sie die Universität lediglich als Hörerin besuchen. Sie litt sowohl unter den gesellschaftlichen Einschränkungen, denen sie als Frau unterworfen war, wie auch unter einer in ihrer Familie herrschenden Frauenfeindlichkeit. Darin und auch in der gesellschaftlichen Abwertung des Patriziats sieht Doris Brodbeck die Gründe für die ständige Überarbeitung und die massiven gesundheitlichen Probleme Helene von Mülinens. Interessant ist die Beschreibung der Beziehung zu ihrer Lebens- und Weggefährtin, der Frauenrechtlerin Emma Pieczinska-Reichenbach. Dabei geht die Autorin auch auf die Frage ein, wie denn eine solch enge emotionale Frauenfreundschaft aus heutiger Sicht eingeordnet werden kann und ob sie eventuell auch als lesbische Beziehung interpretiert werden kann. Ebenfalls vertieft behandelt wird die Beziehung Helene von Mülinens zu ihrem theologischen Lehrer Adolf Schlatter, an dem sie besonders schätzte, dass er Glaube und Intellekt nicht als Widerspruch auffasste.

Im zweiten und dritten Kapitel befasst sich Doris Brodbeck mit der Entstehung der frühen Frauenbewegung, wobei sie besonders auf die Haltung der theologischen Parteien und einzelner Theologen zur Frauenfrage eingeht. Einen grossen Teil des Buches nimmt die Beschreibung der emanzipatorischen Arbeit Helene von Mülinens ein, die eine der bedeutendsten und prägendsten Persönlichkeiten der frühen schweizerischen Frauenbewegung war. Sie hielt zahlreiche Vorträge zu verschiedenen Aspekten der Frauenfrage, engagierte sich in den Frauenkonferenzen von Bern, die von 1897 bis 1919 stattfanden, und in der Sittlichkeitsbewegung, wo sie allerdings wegen ihrer unkonventionellen Haltung zur Sexualität eher aus dem Rahmen fiel. Als erste Präsidentin des Bundes Schweizerischer Frauenvereine (1900–1904) versuchte sie mit Eingaben und Vorträgen, aber auch durch persönliche Kontakte zu Juristen und Parlamentariern auf die schweizerische Gesetzgebung Einfluss zu nehmen.

Der vierte und fünfte Teil des Buches widmen sich der Analyse verschiedener soziologischer, philosophischer und theologischer Theorien der damaligen Zeit und deren Einfluss auf die Gedankenwelt Helene von Mülinens. Als Theologin befasst sich Doris Brodbeck intensiv mit den theologischen Einflüssen und der Entwicklung der Religiosität Helene von Mülinens und zeigt damit Verbindungen zwischen der frühen Frauenbewegung und einem sozialreformerisch geprägten Christentum auf. Dieser Ansatz vermag manche Aspekte der Persönlichkeit Helene von Mülinens neu zu erhellen. Wenn das Buch als Biografie Helene von Mülinens gelesen wird, nehmen die theologischen Bezüge allerdings ein etwas grosses Gewicht ein. Aufschlussreich und gelungen sind die Schlussbetrachtungen, in denen die Autorin ihre Arbeit in den theoretischen Rahmen der Geschlechtergeschichte und der feministischen Theologie setzt. Damit schafft sie es, den Bezug zur heutigen Frauenbewegung herzustellen.

Zitierweise:
Anna Bähler: Rezension zu: Brodbeck, Doris: Hunger nach Gerechtigkeit. Helene von Mülinen (1850–1924), eine Wegbereiterin der Frauenemanzipation, Zürich, Chronos, 2000, 250 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 64, Nr. 3, Bern 2002, S. 127f.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 64, Nr. 3, Bern 2002, S. 127f.

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