R. Gerber: Gott ist Burger in Bern

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Titel
Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich


Autor(en)
Gerber, Roland
Erschienen
Weimar 2001: Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger Weimar
Anzahl Seiten
Preis
€ 64,90
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Urs Martin Zahnd

Ausgehend von dem bekannten Satz des Chronisten Konrad Justinger, der im Rückblick auf den Laupenkrieg erklärte, nun sei zweifellos Gott selber in Bern Burger geworden, fragt Roland Gerber in seiner bei Professor Rainer Christoph Schwinges an der Universität Bern ausgearbeiteten Dissertation nach den sozialen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen, die es Berns Bürgerschaft ermöglicht hatten, die Stadt im 15. Jahrhundert neu zu gestalten, einen sozialen Ausgleich zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu schaffen und gleichzeitig das grösste städtische Territorium nördlich der Alpen aufzubauen. Im Zentrum der Untersuchung stehen die gesellschaftlichen Veränderungen Berns in der Zeit zwischen dem Burgdorfer Krieg (1384) und der ersten allgemeinen Kodifizierung städtischer Herrschaftsrechte auf dem Land während des Twingherrenstreites (1469–1471). Die wichtigsten Archivalien, auf die sich der Autor stützt, sind neben Rechnungs-, Zins- und Restanzenbüchern sowie den Tellbüchern von 1389, 1448 und 1458 vor allem die Udelbücher von 1389 und 1466. Udelbücher finden sich in verschiedenen Städten der burgundischen Schweiz. Man könnte sie als eine Art grundstückbezogene Hypotheken bezeichnen, die für die Erfüllung der von den Bürgern bei der Einbürgerung beschworenen Bürgerpflichten hafteten – sie erfüllten also eine ähnliche Aufgabe wie andernorts die Bürgerbücher. Obschon es sich bei den Berner Udelbüchern (die sich im Staatsarchiv befinden) um ausserordentlich wichtige, ja zentrale Quellen zur Geschichte des spätmittelalterlichen Bern handelt, sind sie von der bisherigen Forschung nie gründlich analysiert worden. Diese Zurückhaltung ist wohl in erster Linie auf die grossen Schwierigkeiten zurückzuführen, die sich beim Versuch einer integralen Erfassung dieser Quelle stellen: Nicht nur stammen die Einzeleinträge von verschiedensten Schreiberhänden, sie sind zudem oft korrigiert, überschrieben und in der Regel nicht datiert worden. Roland Gerbers Entscheid, in seiner Dissertation von einer PC-gestützten Erfassung gerade dieser Quellen auszugehen, verdient deshalb Respekt und
Interesse.

Eingeleitet wird die Arbeit mit einem Blick auf die Forschungslage, einer Charakterisierung der hauptsächlichen Quellen und einer Skizze des spätmittelalterlichen bernischen Stadtrechtes. Das zweite Kapitel ist den demografischen Verhältnissen in Stadt und Landschaft Bern im 14./15. Jahrhundert gewidmet, das dritte der rechtlichen Stellung der Bürger und Einwohner Berns, das vierte der Stadttopografie, das fünfte der Verflechtung von wirtschaftlicher und politischer Macht, das sechste dem Handel und dem Gewerbe und das siebente dem Aufbau und der Verwaltung des städtischen Territoriums. Ergänzt wird die Arbeit (nach einer Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse) mit dem üblichen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie 86 Grafiken, die einzelne Aspekte der Untersuchung veranschaulichen.

Die Dissertation von Roland Gerber, deren Fragestellungen in eine ähnliche Richtung zielen wie verschiedene andere neuere Untersuchungen zu spätmittelalterlichen Städten (von Rüthing, Alioth, Dilcher und anderen), hat eine ganze Reihe neuer, wertvoller Einsichten über Bern im 14./15. Jahrhundert gebracht. Hervorzuheben ist die verdienstvolle, längst fällige Analyse der Udelbücher, mit denen sich seit Beat Frey (1950) niemand mehr eingehend befasst hat. Dank der Aufnahme aller Einzeleintragungen erhält der Autor eine Datenbank beachtlichen Ausmasses, die es erlaubt, die bernische Gesellschaft um 1400 in ihren vielfältigen Verknüpfungen zu rekonstruieren. In Kombination mit den Tellbüchern von 1389–1458 gelingt es Roland Gerber, die Bevölkerung der Aarestadt vom ausgehenden 14. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts nach Haushalten, Haushaltvorständen, Wohnort, Vermögen, Beruf und Herkunft zu erfassen. Insbesondere legt er die erste grössere moderne Untersuchung zur Demografie Berns im Spätmittelalter vor und korrigiert die bisher kursierenden Angaben (Ammann, Bickel, Mattmüller). Neues bieten auch seine sozialhistorischen Untersuchungen, etwa seine Ausführungen über italienische Kaufleute als Gedingbürger oder die umfangreichen Angaben über einzelne kleine Handwerker und deren Familie, Gewerbe und Haushalt. Bemerkenswert sind auch seine Ausführungen zu einzelnen verfassungsrechtlichen Fragen, zum Beispiel die Darlegungen zu Bürgerrecht und Bürgereid oder zu der sich wandelnden Bedeutung der Ausburger für die Stadt im Verlauf des 15. Jahrhunderts. Sehr lobenswert ist nicht zuletzt auch sein Bemühen, die Stadt immer wieder in ihrer engen Verbindung mit der umliegenden Landschaft zu sehen, nicht nur die Wirtschaftskraft der Stadtbevölkerung, sondern auch die ökonomische Bedeutung des Herrschaftsgebietes für die Politik des Stadtstaates zu beachten und die personelle Verflechtung zwischen Stadt und Land in allen sozialen Gruppen zu erhellen. Zu Recht hebt er hervor: «Das expansive Ausgreifen der Stadt auf die Landschaft bewirkte dabei seit dem beginnenden 14. Jahrhundert eine aussergewöhnlich dichte soziale, ökonomische und politisch-herrschaftliche Verflechtung der Stadt- mit der Landbevölkerung. Dies kann als Besonderheit der bernischen Stadtentwicklung während des Spätmittelalters bezeichnet werden.» (468) Das Buch von Roland Gerber ist all jenen Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die sich von der imponierenden Materialfülle der Publikation anregen lassen, die sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse im spätmittelalterlichen bernischen Stadtstaat immer wieder aus neuer Perspektive zu sehen.

Zitierweise:
Urs Martin Zahnd: Rezension zu: Gerber, Roland: Gott ist Burger zu Bern. Eine spätmittelalterliche Stadtgesellschaft zwischen Herrschaftsbildung und sozialem Ausgleich, Weimar, Böhlaus Nachfolger, 2001 (Forschungen
zur mittelalterlichen Geschichte, Bd. 39), 597 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 64, Nr. 3, Bern 2002, S. 124f.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 64, Nr. 3, Bern 2002, S. 124f.

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