H. Zweig-Strauss: Saly Mayer (1882-1950)

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Titel
Saly Mayer (1882-1950). Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust


Autor(en)
Zweig-Strauss, Hanna
Erschienen
Köln 2007: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 39,90
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Patrick Kury, Historisches Institut, Universität Bern

Der St. Galler Textilunternehmer und Präsident des Dachverbandes der jüdischen Gemeinden, Saly Mayer, zählt zu den umstrittenen Persönlichkeiten der Schweiz zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Biographie von Hanna Zweig-Strauss wirft anhand erst vor kurzem erschlossener Quellen ein neues Licht auf seine Tätigkeit. Außer seiner allzu willfährigen Haltung gegenüber den schweizerischen Behörden, die ihm bereits zu Lebzeiten vorgeworfen wurde, wirkte Mayer im Verdeckten als couragierter Fluchthelfer europäischer Juden. Die Amtsperiode von Saly Mayer als ehrenamtlichem Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG) von 1936 bis 1943 fiel in die dramatischen Jahre der Shoah mit der Radikalisierung des deutschen Antisemitismus, dem ‚Anschluss‘ Österreichs und der in der Folge sich zuspitzenden Flüchtlingsfrage in der Schweiz, dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und dem später einsetzenden Völkermord. Auf diese Entwicklungen reagierten die schweizerischen Bundesbehörden und die Regierung, die seit dem Ersten Weltkrieg eine antijüdische Migrationspolitik betrieben, mit einer antisemitisch motivierten Abwehr jüdischer Flüchtlinge. Zudem drängte sie auf die Einführung des ‚J‘-Stempels durch das nationalsozialistische Deutschland und versuchte schließlich im Sommer 1942 eine hermetische Grenzsperre gegen Flüchtlinge durchzusetzen. Außerdem wälzten die Schweizer Behörden während längerer Zeit die Unterhaltskosten jüdischer Flüchtlinge auf die kleine Gemeinschaft der rund 18.000 Juden in der Schweiz ab.1 Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stand die Leitung des SIG vor kaum lösbaren Herausforderungen. Während die Forschung in den vergangenen Jahren die Möglichkeiten und Grenzen des jüdischen Dachverbandes zur Zeit des Zweiten Weltkriegs aufgezeigt hat, blieb von Saly Mayer weiterhin vor allem die loyale Seite bekannt.2

Denn als Präsident des SIG versuchte Mayer mehr oder weniger stillschweigend die behördlichen Auflagen einzuhalten. In der Absicht, nicht grundsätzlich zu opponieren, sondern von Fall zu Fall etwas zu bewegen, suchte er die Nähe zu den Chefbeamten im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), insbesondere zu Heinrich Rothmund. Das äußerst loyale Verhältnis zur Schweiz und den schweizerischen Behördenvertretern führte für Mayer im Jahr 1943 zum erzwungenen Rücktritt als SIG-Präsident und teilweise zu heftiger Kritik an seiner Amtstätigkeit weit über den überraschenden Tod im Jahre 1950 hinaus. Häufig basierte die Kritik allerdings in weitgehender Unkenntnis der Handlungsoptionen des damaligen SIG-Präsidenten und einer Fehleinschätzung der Machtverhältnisse zwischen Fremdenpolizei und jüdischen Gemeinden. In der Vergangenheit wurde denn auch aus national-konservativer Geschichtsperspektive immer wieder versucht, die offizielle, von antisemitischen Motiven geleitete Politik mit dem Argument zu entschuldigen, dass der jüdische Dachverband die Haltung der Bundesbehörden geteilt habe und in vorauseilendem Gehorsam sogar den Weg für eine Politik der Abwehr gewiesen habe.

Diese zumindest in groben Zügen bekannte Seite Saly Mayers ergänzt Hanna Zweig-Strauss in einer lesenswerten Biographie durch die umfassende Darstellung von Mayers Arbeit als Vertreter des American Jewish Joint Distribution Committee, („Joint“), die von 1940 bis 1949 dauerte. Für den „Joint“, der auch die Flüchtlingshilfe von Schweizer Juden innerhalb der Schweiz finanziell unterstützte, baute Mayer seit 1940 von St. Gallen aus ein geheimes Netzwerk auf. Über verdeckte Kanäle ließ der „Joint“ via Mayer und Mittelsmänner um dessen Freund Nathan Schwalb bedrohten Juden in Europa große Summen zukommen und unterstützte, wann immer es möglich war, Flucht- und Rettungsaktionen. Darüber hinaus trat Saly Mayer gegen Ende des Kriegs zum Schein in Verhandlungen mit der SS ein oder finanzierte nach Kriegsende die illegale Einwanderung jüdischer Flüchtlinge nach Palästina. All diese Tätigkeiten hatten während längerer Zeit unter größter Geheimhaltung zu erfolgen, da nach Kriegseintritt der USA die Überweisung von Geldern in die von den Nationalsozialisten besetzten Gebiete strengstens verboten war. Wie sich aus einem obrigkeitsgläubigen Schweizer Juden ein Drahtzieher verdeckter Aktionen entwickelte, der gegen Ende des Kriegs und in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten alleine mehrere Millionen Franken pro Monat zur Rettung der europäischen Juden verschob, ist atemberaubend und lässt sich, wenn überhaupt, nur aufgrund der Dynamik des Kriegs und Saly Mayers Kenntnis vom Völkermord nachvollziehen. Die Einsamkeit, in der sich Saly Mayer bei seinen Entscheidungen befand, wird während der Lektüre des Buches beklemmend. Es ist das große Verdienst von Hanna Zweig-Strauss, diese Seite von Mayers brisanter Tätigkeit aufgrund bisher nicht berücksichtigter und nicht zugänglicher Quellen ans Licht gebracht zu haben.

Über die Darstellung der neuen Erkenntnisse hinaus gehört es zu den stärksten Seiten der Biographie, dass sie die Möglichkeiten und Grenzen des Handelns von Saly Mayer aufzeigt. Weshalb Mayer in der Flüchtlingsfrage ausgerechnet die Nähe zu den Chefbeamten im EJPD, zu Heinrich Rothmund und Max Ruth, suchte, hat in der Vergangenheit immer wieder Kopfschütteln ausgelöst. Mayer kannte Ruth aus St. Gallen. Es müsste ihm bewusst gewesen sein, dass es sich beim Adjunkten der Polizeiabteilung Ruth nicht nur um einen scharfen Antisemiten handelte, sondern um den konzeptionellen Kopf und den eigentlichen Architekten der auf Abwehr ausgerichteten schweizerischen Niederlassungs-, Einbürgerungs- und Flüchtlingspolitik der damaligen Zeit.3 Saly Mayer ging jedoch davon aus, dass er ohne Zusammenarbeit mit der Fremdpolizei gar nichts bewirken konnte. Zudem fühlte er sich in der Flüchtlingsfrage von den bürgerlichen Parteien im Stich gelassen und die Landeskirchen schienen ihm aufgrund antijudaistischer Vorstellungen sowie latenter Bekehrungsansprüche zwiespältige Partner zu sein. Darüber hinaus engte er selbst seinen Spielraum ein, denn für den St. Galler Freisinnigen war eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratie schlicht undenkbar. Außerdem kümmerte sich Saly Mayer nicht um Öffentlichkeitsarbeit, wobei diese zur Zeit des Vollmachtenregimes auch wenig aussichtsreich schien. Die mangelnde Fähigkeit zu kommunizieren und der Hang autoritativ zu entscheiden, führten schließlich zum Scheitern von Saly Mayer als Präsidenten des Dachverbandes der jüdischen Gemeinden. Zugleich waren diese Eigenschaften, seine ausgeprägte Verschwiegenheit und sein selbständiges Agieren, die ideale Voraussetzung für das verdeckte Arbeiten in Zeiten grösster Bedrohung, was zahllosen Juden während des Zweiten Weltkriegs das Leben rettete. Es hat viele Jahre gedauert, bis die Kehrseite der nationalen, kontroversen Sicht auf Saly Mayer durch die internationale Perspektive erweitert wurde. Es ist zu wünschen, dass auch diese Seite ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit dringt.

Anmerkungen:
1 Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg, Schlussbericht, Zürich 2002.
2 Mächler, Stefan, Hilfe und Ohnmacht, Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund und die nationalsozialistische Verfolgung 1933–1945, Beiträge zur Geschichte und Kultur der Juden in der Schweiz, Band 10, Zürich 2005; Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (Hrsg.), Jüdische Lebenswelt Schweiz/Vie et culture juives en Suisse. 100 Jahre Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG), Zürich 2004.
3 Kury, Patrick, Der Wunsch nach Homogenität, Möglichkeiten und Grenzen einer schweizerischen Bevölkerungspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Ehmer, Josef; Lausecker Werner; Pinwinkler, Alexander (Hrsg.), Sonderheft Bevölkerungskonstruktionen, Historical Social Research/Historische Sozialforschung 31, 4/2006, S. 263–281.

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Veröffentlicht am
30.09.2008
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