Titel
Der Supermarkt im Kopf. Konsumkultur und Wohlstand in der Schweiz nach 1945


Autor(en)
Brändli, Sibylle
Erschienen
Wien 2000: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
271 S.
Preis
€ 43,80
URL
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Universität Tübingen

Hinweis für Verbraucher: Auf den Seiten 16 f. und 244 des im Folgenden besprochenen Bandes werden Schriften des Rezensenten positiv herangezogen. Achten Sie auf Anzeichen für eine möglicherweise darauf zurückgehende Verunreinigung des Produkts.

Das Bemühen um Verbraucherschutz ist älter als die BSE-Krise; die Studie der Schweizer Historikerin Sibylle Brändli führt das anhand der engagierten Debatten pro und contra Konsumwerbung in den 1950er und 1960er Jahren vor. Es ist das ein Teilaspekt ihrer leitenden Frage: Wie wurde in dieser Zeit die Figur des Konsumenten im neuen Wohlstand konstruiert? Zur Beantwortung greift sie auf eine beeindruckende Vielzahl von theoretischen und disziplinären Ressourcen zurück: Konsum- und Wirtschaftsgeschichte, psychologische Bedürfnistheorie und Nationalökonomie, Cultural Studies, Kulturanthropologie, Geschlechterforschung und die Denkansätze zum Verhältnis von Macht und Kultur, für die die Namen Foucault und de Certeau stehen. Das Ergebnis ist - im Kontext helvetischer Zeitgeschichte - ein überaus anregender Beitrag zur Historiographie der Mentalitäten, die im "Goldenen Zeitalter" (Hobsbawm) des westlichen Wirtschafts- und Konsumwunders (um)geprägt wurden.

Originalität wie unvermeidliche Beschränkung der Studie ergeben sich aus dem interpretierten Material. Im Zentrum steht die Einführung von Selbstbedienungsläden durch die Konsumgenossenschaft Migros nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Rationierungen. Der Prozess wird zunächst nach seiner dinglichen Seite hin analysiert: der Supermarkt einerseits "als öffentlicher Ort und als Zeichensystem", als Bühne des Alltags, auf der Wohlstand in greifbar lockender Fülle inszeniert wurde, und andererseits als Foucaultsche "Disziplinarinstitution", die den Körpern wie den Blicken der VerbraucherInnen rationalisierte Bewegungsmuster und Handlungsmöglichkeiten vor- und einschrieb.

An Räume und Leiber schmiegten sich die Diskurse, die den neuen Konsumenten sprachlich produzierten: das Reden über Rationalität und Irrationalität des Verbrauchers, über Legitimität und Manipulationsmacht der Werbung, über das rechte Maß von Bedürfnissen und Genüssen, über Männer und Frauen vis à vis der neuen Welt des Einkaufens. Während Brändli diese Diskursregionen als durchaus vielfältige und offene Landschaften rekonstruiert, herrschte unter dem Regime der Ostwest-Konfrontation ein weitgehend gleichgerichtetes Sprechen über Wohlstand als Konstituens einer freiheitlichen und sozial sich homogenisierenden Gesellschaft sowie über Konsum als praktizierte Demokratie.

Beide Fragen, die nach der leiblichen und symbolischen wie die nach der diskursiven Konstruktion des Wohlstands-Konsumenten, rücken eine Gruppe von Akteuren ins Blickfeld, die die (weit verstandene) Kulturgeschichtsschreibung bisher kaum beachtet hat. Brändli regt an, sich jenen Konstrukteuren der Nachkriegsmoderne zuzuwenden, die zwischen Wissenschaftlichkeit und Alltag vermittelten; in ihrem Feld sind das die Experten der Werbebranche und des Einzelhandels. Mit einer Formulierung von Paul Rabinow charakterisiert sie sie als "technicians of general ideas". Diese Männer (Frauen spielten quantitativ keine Rolle) übersetzten ganz praktisch die Normen ökonomischer Rationalisierung und akademischer Bedürfnisforschung in Ladeneinrichtungen, Werbekampagnen, Sachbücher und öffentliche Debatten; deren besondere Qualität lag darin, dass sie traditionelle Einstellungen in den Lebensstil einer gemäßigten oder, wie Brändli formuliert, "biederen" Moderne zu überführen vermochten. Die von Gottlieb Duttweiler geleitete Migros hatte nicht zuletzt deshalb Erfolg, weil sie die Verbraucher 'väterlich' bei der Hand nahm; sie gab ihnen das Gefühl, sie könnten in diesem Verbund die Chancen des Neuen nutzen und seien zugleich sicher vor den Gefahren einer Radikalmodernisierung.

Brändli verfolgt vor allem vier Thematisierungslinien. Zum einen geht es darum, wie Bedürftigkeit und Begehren des Menschen/des Konsumenten konzipiert wurden. Vorstellungen von der Unbestimmtheit und Unabschließbarkeit, Veränderbarkeit und Vervielfältigung der Bedürfnisse gingen ein in das lebensweltliche Wissen der Verbraucher über Menschen als Verbraucher. Dieser Diskurs war verknüpft mit dem Thema, wie die Geschlechter in Bezug auf die neuen Anforderungen einer Rationalisierung des Konsums zu sehen seien. Frauen wurden als Verkörperung der Irrationalität von Kaufentscheidungen angesprochen, aber gleichermaßen als kompetente und zupackende Managerinnen moderner Familienhaushalte. Auch die Probleme einer Männlichkeit, die sich in weiten Bereichen des Konsums geradezu säuglingshaft weiblicher 'Bemutterung' unterwarf, wurden in den 1950ern durchaus angesprochen.

Als dritter Faden war in die Verständigung über den neuen Wohlstands-Konsumenten die Frage nach der kulturellen Legitimität einer positiv als unbegrenzt gedachten Bedürfnisentwicklung eingewoben. Die Suche nach dem 'europäischen Maß' war wesentliches Element der Adaption eines Konsummodells, dessen reinste Verwirklichung man an Beispielen aus den USA studierte. Viertens schließlich geht Brändli dem Prozeß des "nationbuilding" im Kalten Krieg nach, der die Teilhabe am 'Wohlstand' als Einigungs- und Bindungselement westlicher Nachkriegsdemokratie instrumentalisierte.

Eine besondere Stärke der Studie liegt in der sensiblen Entschiedenheit, mit der Ambivalenzen und Offenheiten der Diskurse beleuchtet werden, die disziplinierenden Momente in der Konstruktion des Konsumenten ebenso wie die dabei ausgelösten und in ihrer Wirkung unvorhersehbaren Impulse. Die auratische Besetzung des Wohlstandes zog der Möglichkeit enge Grenzen, "alternative Modelle zu definieren, die den Kreislauf von [psychosozialer; K.M.] Energie und die Herstellung von Wohlstand anders imaginiert hätten." Doch distanziert sich Brändli von einer Historiographie, die in Phasen derart tiefgreifenden Wandels nur die "lückenlose Reproduktion von Machtverhältnissen" nachzuzeichnen weiß; die Studie schärft das Bewußtsein für die Dimension der Alterität in jeder vergangenen Wirklichkeit, für die Notwendigkeit, mit der Unvorhersehbares geschieht und für die Illusionen der Rationalisierungsstrategen.

Das Umschlagfoto gewinnt vor diesem Hintergrund geradezu emblematische Qualität. Am Supermarktregal betrachtet der Vater mit distanzschaffendem Blick den Laib Brot, der sich ihm in die Hand gedrängt zu haben scheint. Ganz kritischer Verbraucher, prüft er mit leichtem Druck des Daumens, ob die verlockende Ware auch ein guter Kauf ist. Von ihm abgewandt und den Blick halb sichernd in den Laden gerichtet, übt die Tochter den Spontankauf. Die eine Hand hält eine Plastikente, die andere schiebt ein Stück Gebäck in den Mund, von dem man sich fragt, ob es wohl bezahlt werden wird. Noch trägt sie ein braves Schürzenkleid, aber ich sehe den Weg, der sie vom "Supermarkt im Kopf" in die Discos und in die Frauenbewegung der 1970er Jahre führt, deutlich vor mir.

Brändli hütet sich, solche Überlegungen auch nur anzudeuten. Sie bleibt bewusst ganz nah an ihrem Material und lässt keinen Irrtum aufkommen über die Reichweite ihrer Interpretationen. Die Beiträge der Experten zur Konstruktion des Konsumenten sind nicht gleichzusetzen mit Praxis und Selbstkonstruktion der Verbraucher. Immer wieder erkennt der Leser, dass hier nicht über eine abgeschlossene Vergangenheit, sondern über ihn und seine mentale Ausstattung gehandelt wird - aber gerade deswegen möchte man mehr darüber erfahren, wie denn die Menschen damals den beginnenden Wohlstand träumten, erlebten, praktizierten. Brändli zieht weder die dazu vorliegende Literatur heran noch Quellen, die im Sinne einer historischen Ethnographie die Wahrnehmungs- und Aneigungsperspektive der VerbraucherInnen erschließen könnten: zeitgenössische Darstellungen etwa (war die Eröffnung des ersten Supermarkts ein Thema für die Lokalpresse?), Filmaufnahmen, Autobiographisches, mündliche Erinnerungen oder andere Ego-Dokumente. Das ist methodisch zweifellos sauberer; aber es lässt den Leser unbefriedigt, der nicht nur etwas über die Ideen der Experten erfahren möchte, sondern auch darüber, was die Menschen daraus machten.

Brändli widersteht auf bewunderungswürdige Weise der Verführung, der viele Historiker gerne erliegen: ihren Gegenstand wichtig zu reden und ihm eine prägnante, geschlossene Gestalt zu verleihen, die er zur Zeit des Geschehens keineswegs hatte. Sie verzichtet auf die Geste des akademischen Generalstäblers, der vorgibt, von seinem Feldherrnhügel aus die strategische Bedeutung jeder Einzelheit und ihre zukünftige Auswirkung zu erkennen. Hinter der Verweigerung solchen historistischen Illusionismus' steht ein hochreflektiertes Bewusstsein der eigenen historiographischen Repräsentationstätigkeit. Die Rekonstruktion mentaler Landschaftsgestaltung taugt nicht für spannende und griffige Geschichten. Bis heute sind längst nicht alle Potentialitäten, alle mehrdeutigen Effekte der Erfindung des Wohlstandskonsumenten nach 1945 zu Tage getreten, und Brändli verzichtet darauf, Eindeutigkeiten und Klarheiten zu präsentieren, wo Unübersichtlichkeit und Unabgeschlossenheit sind. Das Ergebnis ist eine historiographische Darstellungsweise, die sie selber mit der Metapher der "Mimikry" charakterisiert.

Niemand kann der Autorin vorwerfen, sie flüchte sich in Beliebigkeit und verzichte auf die intellektuelle Anstrengung der Ordnung, Verdichtung, Verallgemeinerung. Das Produkt - und jetzt wird die Rezension uneingeschränkt subjektiv - solcher puritanischen Wissenschaftlichkeit ist ein kluger, nüchterner Arbeitsbericht: Man braucht ihn, man profitiert - aber es gibt historische Studien, die man mit mehr spontanem Vergnügen liest. Solche Texte müssen nicht mit weniger Reflexivität verfasst worden sein, aber sie weisen die LeserInnen nicht systematisch auf ihre Konstruiertheit hin. Bei Dissertationen allerdings - und um die Überarbeitung einer solchen handelt es sich - entscheidet darüber, wie man weiß, nicht allein die Verfasserin.

Angesichts der luziden Interpretationen und der dichten Formulierungen, der anregenden Perspektiven und der hohen Reflexivität des Textes gestehe ich, mit schlechtem Gewissen, dass ich es gern ein bisschen griffiger, menschelnd oder spannend gehabt hätte. Aber das ist keine Aussage mehr über das gelungene Buch, sondern über einen Rezensenten, der vielleicht einen Schluck zu viel genommen hat von der Warenästhetik des Supermarkts.

Redaktion
Veröffentlicht am
21.02.2001
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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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