Buchpreis: Essay Kategorie Neueste Geschichte

Von
Irmgard Zündorf

Essay von Irmgard Zündorf, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die auf den ersten fünf Plätzen der Kategorie Neueste Geschichte (1. Hälfte 20. Jahrhundert) prämierten Bücher umfassen thematisch ein relativ breites Spektrum. Zwar liegt mit dreieinhalb Büchern zur NS-Zeit nach wie vor ein Schwerpunkt auf der deutschen Geschichte der 1930er- und 1940er-Jahre. Durch die europäische Perspektive Saul Friedländers und den vergleichenden Ansatz Jörg Baberowskis und Anselm Doering-Manteuffels wird dabei jedoch weit über den deutschen Tellerrand hinaus geschaut. Zeitlich setzt sich vor allem Thomas Kühne über die Epochengrenzen des Nationalsozialismus hinweg und betrachtet das gesamte 20. Jahrhundert. Auf Platz vier und fünf wiederum finden sich „klassische“ Studien zur Wirtschaftsgeschichte des „Dritten Reichs“ von Adam Tooze und zur Kulturgeschichte der Weimarer Republik von Peter Jelavich. Beide Bücher sind bislang vor allem für ihre innovative Perspektive bzw. Fragestellung gerühmt worden, die über ihr eigentliches Thema hinaus wirken könnten. Trotz der Bandbreite der Themen ist also allen fünf Büchern der Bezug zur NS-Zeit gemeinsam – die Erklärung und vergleichende Einordnung des NS-Regimes bleibt somit weiter eine zentrale Herausforderung der Neuesten Geschichte.

Betrachtet man die prämierten Bücher genauer, so fällt darüber hinaus auf, dass die beiden erstplatzierten Arbeiten nicht neue Forschungsergebnisse im engeren Sinne bieten, sondern sich auf Platz eins eine "Geschichtserzählung" und auf Platz zwei ein essayistisches Buch finden. Neben einer neuen Perspektive auf bekannte Entwicklungen zeichnen sie sich, wie in den verschiedensten Besprechungen immer wieder betont wurde, auch durch gute Lesbarkeit aus. Vor allem Saul Friedländers zweiter Band über das "Das Dritte Reich und die Juden" wurde allseits als besonders eindringliche Darstellung der Vernichtung der europäischen Juden gerühmt. Die Bewunderung der Zunft gilt der gelungenen Verbindung des aktuellen Forschungsstandes mit einer Vielzahl von Selbstzeugnissen, die die abstrakte Geschichte des Holocaust mit der Perspektive der Opfer verknüpfen. Friedländer hat eine Geschichte der europäischen Juden im Zeitalter der Vernichtung geschrieben. Durch die Sicht auf ganz Europa und die Einbeziehung der Kollaboration in den einzelnen Ländern gelingt ihm, ohne die Rolle der Deutschen zu relativieren, eine Gesamtdarstellung des Holocaust. Dabei scheut er sich nicht, dezidierte Urteile auszusprechen, kritisiert die Rolle der benachbarten Staaten und greift das unrühmliche Verhalten der Kirchen auf. Friedländer stellt die jüdischen Opfer in den Mittelpunkt seiner Untersuchung. Er betont, dass ihre Vernichtung das Ergebnis von Hitlers ideologisch-kulturell begründeter Politik war und nicht das Nebenprodukt verschiedener ökonomischer Sachzwänge.

Auch Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel zielen über die isolierte Betrachtung des NS-Regimes hinaus, indem sie einem vergleichenden Ansatz zur Geschichte des Terrors im Nationalsozialismus und im Stalinismus nachgehen – ohne den Holocaust dadurch zu relativieren. Die Autoren gehen von der These aus, dass der Terror, den beide Regime in bis dahin ungeahntem Ausmaß entfesselten, der Herstellung von „Ordnung“ im Sinne uniformer, eindeutiger Verhältnisse dienen sollte. Der Kampf beider Regime galt der Vielfalt, also der sozialen, ethnischen und politischen Heterogenität. Gerade diese Heterogenität verstärkte sich allerdings mit der angestrebten Ausbreitung der eigenen Macht automatisch. Somit arbeiteten beide Regime "unablässig an der Vermehrung und Vernichtung ihrer kollektiven Feinde".

Der Titel von Thomas Kühnes Habilitationsschrift lässt zunächst eine Mentalitätsgeschichte der deutschen Soldaten im Zeitalter der Weltkriege vermuten. Das Buch greift allerdings wesentlich weiter aus und ist zugleich eine Gesellschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Dabei zieht Kühne das Konzept der „Kameradschaft“, das nach dem Ersten Weltkrieg mythisch überhöht wurde, zur Erklärung des Durchhaltewillens der Soldaten im längst verlorenen Zweiten Weltkrieg heran. Aber auch die Indifferenz der Soldaten gegenüber den NS-Verbrechen oder die Mittäterschaft daran sucht er hieraus zu begründen. Selbst in der Bundesrepublik konnte die Kameradschaft noch als „männliche Leidensgemeinschaft“ im Privaten überleben. Der Soldat wurde als Opfer und nicht als Teil einer aggressiven Angriffsmaschinerie betrachtet. Mit dem Bedeutungsverlust des Militärs in der Bundesrepublik verschwand zwar der Mythos der alles überdauernden Kameradschaft, doch dauerte es noch bis in die 1980er-Jahre, bis die Opferrolle öffentlich hinterfragt werden konnte.

Eine kleine Überraschung stellt das auf Platz vier nominierte Buch von Adam Tooze dar. Dass eine wirtschaftsgeschichtliche Publikation in englischer Sprache nominiert und schließlich auch prämiert wurde, lässt sich wohl nicht nur damit erklären, dass eine entsprechende Studie zum Nationalsozialismus bisher ein Desiderat darstellte. Tooze interpretiert vielmehr das NS-Regime insgesamt von seiner wirtschaftlichen Seite her und rückt ökonomische Zusammenhänge ins Zentrum der nationalsozialistischen Politik, ohne die Bedeutung von Hitlers ideologischer Fixierung und deren Konsequenzen zu verkennen. Er räumt mit dem Mythos des "Speerschen Rüstungswunders" auf und verdeutlicht die immanenten Grenzen des Wachstums der NS-Wirtschaft, die zu keinem Zeitpunkt in der Lage war, einen Krieg gegen ganz Europa und die USA zu bewältigen.

Einer Geschichte der ganz anderen Art widmet sich das Buch von Peter Jelavich. Am Beispiel der Veröffentlichung von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" als Hörspiel und als Film erschließt Jelavich die Kulturpolitik in der Weimarer Republik. Selbst in der Phase liberaler Rundfunk- und Filmpolitik habe eine Produktion mit Verweisen auf politische Ereignisse, auf Homosexualität und mit einer positiven Darstellung von Berliner Juden keinen Platz gefunden. So wurde der Roman zwar zu einem Hörspiel umgewandelt, dieses aber nicht ausgestrahlt. Die Verfilmung kam zwar in die Kinos, war allerdings durch die "Vorzensur" fast zur Unkenntlichkeit entstellt. Jelavich beleuchtet eine Weimarer Kulturpolitik, auf die schon früh die Schatten späterer Illiberalität fielen.

Das breite Themen-Panorama der gewählten Bücher zeigt weiter die Vielschichtigkeit der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die immer stärker in eine übergreifende europäische Geschichte des ganzen 20. Jahrhunderts eingebettet wird. Während die Ansätze von der Gesellschafts- zur Militär- und Wirtschaftsgeschichte bis hin zur Kulturgeschichte reichen, sind die Abgrenzungen der einzelnen Subdisziplinen fließend. Das kann dem Fach nur nutzen.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2007“ wurden in der Kategorie Neueste Geschichte folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Friedländer, Saul: Die Jahre der Vernichtung. Das Dritte Reich und die Juden 1939-1945, München 2006. Rezension von Peter Klein, in: H-Soz-u-Kult, 16.05.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-094>.
2. Baberowski, Jörg; Doering-Manteuffel, Anselm: Ordnung durch Terror. Gewaltexzess und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium, Bonn 2006. Rezension von Jürgen Zarusky, in: H-Soz-u-Kult, 13.03.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-170>.
3. Kühne, Thomas: Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006. Rezension von Magnus Koch, in: H-Soz-u-Kult, 03.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-005>.
4. Tooze, Adam: The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006. Rezension von André Steiner, in: H-Soz-u-Kult, 01.11.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-094>.
5. Jelavich, Peter: Berlin Alexanderplatz. Radio, Film, and the Death of Weimar Culture, Berkeley, CA 2006. Rezension von Nadine Rossol, in: H-Soz-u-Kult, 12.04.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-024>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Neueste Geschichte, In: H-Soz-Kult, 19.07.2007, <www.hsozkult.de/text/id/texte-921>.
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