Buchpreis: Schwerpunktthema 2007: Entangled History: nationale und europäische Geschichte in globaler Perspektive

Von
Andreas Eckert

Essay von Andreas Eckert, Humboldt Universität zu Berlin

In seiner 1883 publizierten, äußerst populären Studie „The Expansion of England“ konnte sich Sir John Seeley, Königlicher Professor an der Universität Cambridge, die Schaffung des britischen Empire nur als einen „Akt von Geistesabwesenheit“ vorstellen. Damit wollte er freilich nicht suggerieren, die imperialen Eroberer und Prokonsuln hätten nicht gewusst, was sie taten. Seeley betrübte vielmehr die Tatsache, dass die Mehrheit der Engländer nicht das geringste Interesse und wenig Kenntnisse über die imperialen Unternehmungen ihres Landes offenbarten. In seinem Buch notierte Seeley mit einiger Bestürzung, dass „wir immer noch annehmen, wir seien lediglich eine Rasse, die eine Insel vor der nördlichen Küste des europäischen Kontinents bewohnt.“

Seeley zufolge war England hingegen eine imperiale Nation sui generis, für deren Selbstverständnis und für deren Eigendefinierung die Expansion konstitutiv war. Lange Zeit jedoch konnte sich diese Sichtweise zumindest in der Geschichtsschreibung nicht durchsetzen. Es birgt eine gewisse Ironie, dass das akademische Interesse am Empire und den Rückwirkungen der imperialen Erfahrungen auf das „Mutterland“ sich erst zu dem Zeitpunkt intensivierte, als das britische Weltreich längst Geschichte war. Bis vor knapp zwei Dekaden noch litten jene, die sich mit dem britischen Imperialismus beschäftigten, unter ihrem Image als reaktionäre Militaria-Sammler, die vergangener Größe nachtrauerten. Inzwischen haben sich einige der besten Köpfe der britischen (und nordamerikanischen) Geschichts- und Kulturwissenschaften des Themas angenommen und versuchen mit originellen Ansätzen neues Licht auf scheinbar bekannte Fakten und Zusammenhänge zu werfen.

Auf dem Markt des Wissens drängt sich derweil eine Vielzahl von Studien, die auf unterschiedliche Weise die These zu belegen suchen, dass das Empire einen fundamentalen Bestandteil englischer Kultur und nationaler Identität bildete. Mit ihrer ambitionierten Gesamtdarstellung „British Imperialism“ etablierten Peter Cain und Anthony Hopkins die Imperialgeschichte im Zentrum der britischen Nationalhistoriographie. Die imperiale Expansion, so eine zentrale Aussage der beiden Autoren, sei keine Akzidenz des britischen Kapitalismus, sondern mache geradezu dessen Essenz aus. Die Bände in der angesehenen, seit Mitte der 1980er-Jahre von John MacKenzie herausgegebenen Reihe „Studies in Imperialism“ beleuchten diverse Bereiche, in denen der Imperialismus auf den britischen Alltag zurückwirkte, etwa Sport, Musik, Wissenschaft, Kinderbücher, Film, Propaganda und Jagd. Linda Colley wagte sich mit der Behauptung vor, dass eine britische Identität erst in bewusster Abgrenzung zum „kolonisierten Anderen“ entstand. Und, nicht zu vergessen, Edward Said, dessen „Culture and Imperialism“ wichtige Referenz für zahllose Untersuchungen über imperiale Elemente im britischen literarischen Kanon ist.

Das britische Empire ist sicherlich das naheliegendste und auch am besten erforschte Beispiel für die Einsicht in die Notwendigkeit, transnationale und globale Perspektiven auf die europäische Geschichte und die Geschichte der europäischen Nationalstaaten zu entwickeln. Denn Europa realisierte sich in der Welt, in der Auseinandersetzung mit anderen Gesellschaften jenseits der eigenen Grenzen. Die europäische Expansion veränderte die Welt und mit ihr Europa. Der Kolonialismus sei, stellte Stuart Hall fest, die „constitutive outside“ des westlichen Kapitalismus. Diese These wird verstärkt auch am deutschen Beispiel erprobt und einige der auserwählten Werke in der Kategorie „Entangled History“ fokussieren konsequenterweise auf Deutschland. Klarer Sieger in diesem Feld ist jedoch ein alter Bekannter. Christopher Baylys fulminante globalgeschichtliche Studie „Die Geburt der modernen Welt“, vor zwei Jahren in der Kategorie „Außereuropäische Geschichte und Weltgeschichte“ ganz oben auf dem Siegertreppchen, trägt nun mit der im Campus Verlag erschienenen deutschen Übersetzung den Sieg im Bereich der „Verflechtungsgeschichte“ davon.

Von den Rezensenten wird das Werk nicht zuletzt deshalb unisono gelobt, weil es sich nicht um einen weiteren programmatischen Aufruf handelt, wie Welt- bzw. Globalgeschichte konzeptualisiert werden könne, sondern es dem Autor um die praktische Umsetzung globalgeschichtlicher Ansätze geht. Bayly lässt sich dabei von folgenden Prinzipien leiten: intensive Auseinandersetzung mit der Spezialforschung, Skepsis gegenüber Großtheorien und Vorsicht gegenüber Allwissenheitsphantasien. Sein Buch ist jedoch keineswegs eine additiv-enzyklopädische Darstellung von Nationalgeschichten, sondern ein umfangreicher, anspruchsvoller Essay über die vielfältigen Bedeutungen und inhärenten Paradoxien von Moderne. Er begreift die Entstehung der modernen Welt als dezentralen und zugleich zusammenhängenden Prozess, entwirft mithin eine Geschichte der Moderne als eines „multizentrischen Unternehmens“, an dem außereuropäische Gesellschaften aktiven Anteil nahmen.

Inzwischen hat sich weitgehend herumgesprochen, dass die Globalisierung nicht erst in den 1980er-Jahren mit der Krise des Sozialstaates, neuen Kommunikationsmöglichkeiten und der Explosion der Finanzmärkte begann. Die Periode vom Beginn des revolutionären Zeitalters Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs war durch vielfältige globale Verknüpfungen und Interdependenzen geprägt. In diesem Zeitraum kam es zu wachsenden Gleichförmigkeiten in Staat, Religion, politischen Ideologien und ökonomischen Praktiken. Diese Entwicklung lässt sich nicht allein an großen Institutionen wie Kirchen, königlichen Höfen und Rechtssystemen ablesen, sondern auch an, wie Bayly es nennt, „körperlichen Praktiken“, an der Art und Weise, wie Menschen sich kleideten, sprachen, aßen und ihre familiären Beziehungen regelten. Aus diesen sich zügig vertiefenden Verbindungen zwischen verschiedenen Gesellschaften gingen zahlreiche hybride politische Ordnungen, gemischte Ideologien und komplexe Formen wirtschaftlicher Aktivitäten hervor. Wie Bayly zeigt, erhöhten diese Verknüpfungen gleichzeitig jedoch das Bewusstsein von Differenz oder gar Antagonismus vornehmlich zwischen den Eliten verschiedener Gesellschaften.

Die zweitplatzierte Arbeit, Sebastian Conrads Studie über Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, löste bei einigen Granden der historischen Zunft in Deutschland Nörgeleien aus. Die einen fanden, das sei alles doch schon bekannt, anderen war eine globale Interpretation des Kaiserreichs zu „luftig“ und empirisch zu wenig stichhaltig. Ohne Zweifel leistet Conrad jedoch einen wesentlichen und originellen Beitrag zur Neuvermessung einer Periode der deutschen Geschichte, zu der sich in unseren Bibliotheken die Bücher bereits zu Bergen türmen: Er interpretiert die Geschichte des deutschen Kaiserreichs aber eben nicht mehr, wie bisher in der Regel geschehen, aus sich heraus als Nationalgeschichte, sondern als Teil einer globalen Verflechtungsgeschichte. Dabei arbeitet er ideenreich die Widersprüchlichkeit des sich im 19. Jahrhundert dynamisierenden Globalisierungsprozesses heraus, die darin bestand, dass zunehmende, in der Regel freilich höchst asymmetrische globale Verflechtungen einhergingen mit der Tendenz zur Abgrenzung und Betonung der Differenz. Er greift in diesem Zusammenhang eine jüngere Einsicht der Globalgeschichtsschreibung auf, welche besagt, dass die Stabilisierung und Territorialisierung des Nationalstaates einer der zentralen Effekte der globalen Vernetzung vor dem Ersten Weltkrieg darstellt. Conrad will auf diese Weise die, wie er es nennt, „Utopien einer postnationalen Historiographie“ hinter sich lassen.

Der Autor geht von der Beobachtung aus, dass der deutsche Nationalismus von Anfang an ein transnationaler Nationalismus war und leitet daraus die Notwendigkeit ab, „die globalen, den europäischen Kontext transzendierenden Dimensionen der deutschen Geschichte sowie ihre Rückwirkungen auf die Entwicklung der Vorstellung von der Nation“ ins Zentrum zu stellen. Nicht, wie bisher schon oft geschehen, die Radikalisierung des Nationalismus als Voraussetzung für eine deutsche „Weltpolitik“ steht im Mittelpunkt, sondern es werden umgekehrt die Effekte der Globalisierung auf nationale Parameter analysiert. Von besonderer Bedeutung, so argumentiert Conrad, war dabei die Mobilität von Menschen und Arbeit aus Deutschland heraus und nach Deutschland hinein. Mobilität, Arbeit und Nation sind folglich die Untersuchungsbereiche, die im Zentrum seiner Studie stehen.

Conrad versteht seine Arbeit dezidiert als einen Beitrag zur deutschen Geschichte und will diese Kategorie gleichzeitig durch seine transnationale Perspektive unterminieren. Methodisch durchaus sinnvoll und nachvollziehbar, will er der „Positionalität“ globaler Prozesse Rechnung tragen, indem er gewissermaßen aus Deutschland heraus auf die Welt blickt. Der Preis für eine solche Perspektive wird von Conrad gleich selbst benannt – die Handlungsspielräume sowie der Anteil der „Anderen“ an den globalen Verflechtungen können bestenfalls angedeutet werden. Hier liegt eine gewisse Ironie des innovativen Ansatzes der Arbeit: Denn Afrikaner oder Chinesen erscheinen – ähnlich wie in der älteren Kolonial- und Imperialgeschichtsschreibung – weitgehend als handlungsunmächtige Objekte deutscher Konstruktionen und Phantasien. Zwar plädiert Conrad an mehreren Stellen für die berühmte Forderung von Frederick Cooper und Ann Stoler, Metropole und Kolonie innerhalb eines einzigen analytischen Feldes zu untersuchen. Die von ihm vorgenommene Umsetzung dieser Forderung stößt jedoch da an Grenzen, wo es um die Einbeziehung der Kolonisierten jenseits ihrer Rolle als Gegenstand europäischer Diskurse geht.

Bei den auf den weiteren Plätzen zu findenden Werken treffen wir erneut gute Bekannte. Der Jürgen Kocka zum 65. Geburtstag gewidmete Band „Transnationale Geschichte“ war im vergangenen Sommer Gegenstand eines H-Soz-u-Kult- Reviewsymposiums. Die zwischen den Buchdeckeln versammelten Beiträge von Wegbereitern und intellektuellen Partnern Kockas geben einen guten Einblick in die unterschiedlichen Strategien, die sich mit dem noch relativ vagen Konzept der transnationalen Geschichte verknüpfen. Eher behutsame Entwürfe, welche die transnationale Geschichte als eine von mehreren „Erweiterungs"optionen sehen, stehen neben sehr weitgehenden Ansprüchen, die nicht weniger im Schilde führen als den spatial turn nachhaltig für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen. Der von Boris Barth und Jürgen Osterhammel herausgegebene Band gewann letztes Jahr mit deutlichem Vorsprung den Preis in der Kategorie „Außereuropäische Geschichte“. Im Zentrum des Buches steht mit „Zivilisierungsmissionen“ ein, so die Herausgeber, zentraler, bisher aber „wenig beachteter Aspekt der Idee- und Ideologiegeschichte der westlichen Moderne.“ In ähnlicher Weise deutete Dirk van Laak in seinem ideenreichen Essay über den deutschen Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert den Imperialismus als folgenschwere Etappe der Globalisierung, die gerade in Deutschland von nationaler Verunsicherung und chauvinistischer Übersteigerung geprägt war.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2007“ wurden in der Kategorie Schwerpunktthema: Entangled History: nationale und europäische Geschichte in globaler Perspektive folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Bayly, Christopher Alan: Die Geburt der modernen Welt. Eine Globalgeschichte 1780 - 1914, Frankfurt u.a. 2006. Rezension von Sebastian Conrad, H-Soz-u-Kult, 20.10.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-047>.
2. Conrad, Sebastian: Globalisierung und Nation im deutschen Kaiserreich, München 2006. Rezension von Ulf Engel, H-Soz-u-Kult, 14.09.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-088>.
3. Budde, Gunilla; Conrad, Sebastian; Janz, Oliver (Hrsg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien [Jürgen Kocka zum 65. Geburtstag], Göttingen 2006.
Rezension von Andreas Eckert, H-Soz-u-Kult, 16.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-050>.
Rezension von Dominic Sachsenmaier, H-Soz-u-Kult, 13.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-040>.
Rezension von Barbara Lüthi, H-Soz-u-Kult, 12.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-036>.
Rezension von Michael Geyer, H-Soz-u-Kult, 11.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-032>.
Rezension von Matthias Middell, H-Soz-u-Kult, 10.10.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=8152>.
4. van Laak, Dirk: Über alles in der Welt. Deutscher Imperialismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005. Rezension von Gesine Krüger, H-Soz-u-Kult, 12.06.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-179>.
4. Barth, Boris; Osterhammel, Jürgen (Hrsg.): Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005.
Rezension von Birthe Kundrus, H-Soz-u-Kult, 02.06.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=6956>.
Rezension von Frank Becker, H-Soz-u-Kult, 27.10.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-056>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Schwerpunktthema 2007: Entangled History: nationale und europäische Geschichte in globaler Perspektive, In: H-Soz-Kult, 21.07.2007, <www.hsozkult.de/text/id/texte-913>.
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